Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
arbeiten, weil mehrere Kollegen an einem üblen Magen-Darm-Virus erkrankt sind.
Alle versuchen so gut es geht den Betrieb aufrechtzuerhalten; alle Betten sind belegt, und die Rennerei nimmt kein Ende.
Was fällt auf? Genau: Die Verwaltung ist nicht dabei, sie befindet sich in toto zu Hause, denn es ist bereits später Nachmittag. Die Erstversorgung wird von denjenigen durchgeführt, die für das Wohl der Patienten zuständig sind, und da spielt der aufgeblasene Verwaltungskopf eher in der Kreisliga.
In den Kliniken wird seit Jahren gespart, dass es nur so kracht. Das Zauberwort heißt «Kosteneffizienz», und damit das Sparen auch wirklich richtig gut funktioniert, gibt es einen Haufen Leute, die sich damit auch richtig gut auskennen. Sie sitzen im Controlling und benchmarken das weitere Procedere, indem sie den Abteilungsleitern sagen, wie viel sie ausgeben dürfen und wie viel nicht, und «wie viel nicht» ist auf jeden Fall mehr als «wie viel». Eifrig wird den ganzen Tag gerechnet, hin und her und dann nochmal die Quersumme, und irgendwann ist klar, wo am meisten gespart werden muss: am Personal. Mag die ganze Rechnerei faktisch zwar richtig sein, so hat das Ergebnis eine gewaltige Achillesferse. Natürlich kann man ausrechnen, dass für die Versorgung von sagen wir mal zwanzig Patienten – zwölf von ihnen sind beatmet, fünf weitere haben frische Infarkte und drei brauchen aufwendige Betreuung, weil sie völlig verwirrt sind – lediglich fünf examinierte Krankenschwestern und -pfleger ausreichen. Man kann auch so tun, als hätte man ausgerechnet, dass drei Leute reichen. Unterm Strich kommt für mich bei diesen Aufstellungen nur eines heraus: Wir arbeiten mit den Rechenfehlern derer, die pünktlich um siebzehn Uhr den Rechner herunter- und nach Hause fahren, denn selbstverständlich ist es so gut wie unmöglich, qualitativ gute Pflege durchzuführen, wenn jeder vier Patienten versorgen muss. Denn geht es nur einem von ihnen richtig schlecht, bleiben die anderen drei auf der Strecke, es sei denn, die anderen Kollegen haben Zeit, sich auch um diese drei Patienten zu kümmern. Und so kommt niemals Ruhe in das System, weder am Tag noch in der Nacht.
All das, was man in der Fachausbildung gelernt hat, kann man so getrost vergessen, denn die Zeit reicht gar nicht aus. Anstatt einen Menschen in Ruhe vom Bett in den Sessel zu mobilisieren, damit er die Fähigkeit zu stehen, zu gehen und die Orientierung im Raum zurückgewinnt, rasen wir von einem zum anderen, ohne Pause, hektisch und mit einem miesen Gefühl, die Patienten nicht ihren Bedürfnissen entsprechend zu versorgen. Und um dieses miese Gefühl möglichst effizient zu unterdrücken, setzen wir alles daran, es doch irgendwie zu schaffen, und merken erst viel später, dass wir eigentlich ganz schön doof sind, weil wir uns damit unser eigenes Grab schaufeln: Wir spulen trotz erheblichen Personalmangels ganz selbstverständlich das gesamte Programm herunter und liefern den kühnen Rechnern den Beweis, dass ihre Zahlen so falsch nicht sein können. Nach Dienstschluss kann immerhin gesagt werden, dass alles geschafft wurde. Die einzige Frage, die nicht gestellt wird, ist: «Und wie geht es euch?»
Der Fragenkatalog der Befindlichkeitsstörungen ist umfassend. Wie geht es denen, deren befristete Verträge voraussichtlich nicht verlängert werden? Wie fühlt man sich mit einem Burn-out? Und wie nach einem Dienstmarathon aus drei Frühdiensten, zwei Spätdiensten und vier Nachtschichten? Wie ist das mit Schlafstörungen? Bekommt man dann auf der Straße noch mit, dass dieser riesige Sattelschlepper auf einen zurast, wenn man mit seinen Einkäufen über die vielbefahrene Hauptstraße taumelt? Und was muss das erst für ein Gefühl sein, wenn man morgens nach dem Nachtdienst feststellt, dass man während eines Sekundenschläfchens bereits auf dem Grünstreifen entlangrattert? Wie kommt man einigermaßen aufrecht durch den Alltag, wenn der Ischias ständig schmerzhaft dazwischenfunkt? Wie ist das mit diesen Verdauungsstörungen, weil man zwei Tage hintereinander nicht ein einziges Mal in Ruhe gegessen hat? Welche emotionale Wucht tritt einen um, wenn man merkt, dass die Beziehung aus Zeitmangel nicht mehr gepflegt werden konnte und plötzlich alles in Trümmern liegt? Kann man Angehörigen eines sterbenden Patienten mit Ruhe und Umsicht beistehen, wenn gerade die eigene Mutter gestorben ist? Und wie mag das erst sein, wenn man von dieser kleinen Aufzählung
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