Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
Frühstücksgutschein für die Cafeteria. Hoffentlich gibt es nicht nur Milchsuppe!
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Es knallt
Die Intensivstation bietet sowohl für das Personal als auch für die Patienten einen großen Korb an Überraschungen: Komplikationen vor Operationen, Komplikationen nach Operationen, Nachblutungen oder Reanimationen, manchmal auch beides im Doppelpack. Die psychischen Entgleisungen mancher Patienten stellen jedoch oftmals eine ungleich größere Herausforderung dar als die Stillung einer Nachblutung. Für eine relativ große Anzahl der Patienten geriert sich der Aufenthalt auf der Intensivstation zu einem veritablen Horrortrip. Sie haben nicht nur Schmerzen oder Angst, sie können auch die ungeheure Menge an verschiedenen Geräuschen einer Intensivstation nicht zuordnen, und in ihrer Umnebelung aus Narkoseresten und Schmerzmedikamenten verlieren sie langsam, aber sicher den Faden.
Herr Schroth hat etwas Zeit gebraucht, um sich von seiner Herzklappenoperation zu erholen. Zwei Tage galt er als ausgesprochener «Wackelkandidat» und lag kraftlos und kaum ansprechbar in seinem Bett. Zwischenzeitlich war sein Atem viel zu flach, und so musste er regelmäßig mit einer eng anliegenden Maske ein Atemtraining machen, um eine erneute Intubation und Beatmung zu vermeiden. Seine Frau saß ratlos an seinem Bett und hielt seine Hand.
Am dritten Tag nach der Operation macht Herr Schroth jedoch einen wesentlich aufgeweckteren Eindruck – er ist gut ansprechbar, kann sich mit Hilfe an die Bettkante setzen und sich die Zähne selbständig putzen. Er scheint bei wesentlich klarerem Verstand zu sein; zwar spricht er nicht viel, aber als der Giftzwerg ihn morgens beim Waschen fragt, ob er sich für Fußball interessiere, wird er hellhörig und möchte die aktuellen Ergebnisse wissen. Herr Schroth scheint offenbar aus dem Schneider zu sein und wird in ein ruhigeres Zimmer verlegt, in dem er aus dem Fenster gucken kann und nicht der Hektik rund um beatmete Neuaufnahmen ausgesetzt ist. Und Herr Schroth hat Appetit. Weil er Milchsuppen und Joghurt nicht mag, möchte er gerne eine Scheibe Weißbrot mit Käse haben. Der Giftzwerg geht in die Küche, schmiert ein Brot und schneidet es in handliche Stücke, legt eine Gabel dazu und geht mit dem Tablett zurück ins Zimmer. Sie stellt es auf dem Beistelltischchen ab, als sich Herr Schroth kerzengerade im Bett aufrichtet und sie verwirrt anguckt.
«Wer sind Sie denn?», fragt er. Verblüfft entfährt dem Giftzwerg noch: «Was ist denn mit Ihnen los?», als Herr Schroth plötzlich nach der Gabel greift und alle Anstalten macht, dem Giftzwerg das Besteck in den Leib zu stechen. «Ihr wollt mich alle umbringen!», ruft er. Schlagartig ist die Wahrnehmung von Herrn Schroth in absolute Panik umgeschlagen.
Jeder Versuch, ihn dazu zu bringen, die Gabel herzugeben oder wenigstens auf den Tisch zu legen, bleibt erfolglos und führt zu weiteren Mordanklagen, und das in einer zunehmenden Lautstärke, die mittlerweile durch den ganzen Flur schallt.
Am anderen Ende des Flures beschäftigt und hellhörig geworden, will ich nach dem Rechten schauen, als der Giftzwerg mir schon entgegenkommt. «D… der rastet völlig aus!», stottert sie. Die Eule und der Vollbart sind in das Zimmer geeilt und suchen in sicherem Abstand zu Herrn Schroth nach einer Lösung, wie man den Mann wieder zur Räson bekommt und vor allem: ihm die Gabel abnimmt!
Auf Herrn Schroth wirken diese Menschen, komplett in Grün gekleidet, nicht sonderlich vertraueneinflößend, auch wenn sie noch im gesunden Abstand zu ihm im Türrahmen stehen. «Ihr wollt mir alle ans Leder!», ruft er, und man kann nicht behaupten, dass das gelogen wäre. Als sich der Vollbart vorsichtig nähert, verteidigt Herr Schroth mit mittlerweile hochrotem Kopf sein Territorium, indem er raumgreifend mit der Gabel herumfuchtelt.
Wir wollen Herrn Schroth die Gabel möglichst ohne Anwendung von Gewalt abnehmen und ihn mit einem Beruhigungsmittel vor einer kompletten Überlastung seines immer noch eingeschränkten Allgemeinzustands bewahren – und auch uns selber. Schon bald geben wir allerdings die Hoffnung auf eine gewaltfreie Deeskalation auf. Herr Schroth will weder die Gabel hergeben noch sich von irgendwelchen Pharmazeutika lahmlegen lassen; er fühlt sich akut bedroht und wehrt sich dementsprechend gegen all unsere Unternehmungen. Der zentrale Venenkatheter, der sich in seiner Halsvene befindet, hängt sichtbar über seinem Hemd,
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