Schwesterlein, komm stirb mit mir
Psychologie studiert hat.»
«Ich habe dir immer gut zugehört», antwortete Deborah ohne eine Spur von Ironie. «Und ich habe dein Gesicht gesehen, als du eben von deinem Bruder erzählt hast. Du hast ihn sehr bewundert.»
«Und glühend beneidet. Manchmal zumindest.» Liz lächelte bitter. «Weißt du noch, wie wir neulich über Freud gesprochen haben? Da fiel mir plötzlich ein, wie wütend ich manchmal darüber war, dass Hendrik so viele Dinge tun durfte, die mir verboten waren. Abends im Dunkeln noch draußen spielen. Allein mit dem Fahrrad in die Stadt fahren. Meine Eltern haben immer gesagt, ich sei noch zu klein. Aber selbst wenn ich endlich so alt war wie Hendrik, als er etwas durfte, wurde es mir immer noch untersagt. Zumindest habe ich das so empfunden. Eine Zeitlang habe ich sogar abends im Bett gebetet, ein Junge zu werden, wenn ich groß bin.» Liz schüttelte den Kopf. «So was Verrücktes! Bis vor ein paar Tagen hatte ich das vollkommen vergessen. Da muss ich wirklich noch sehr klein gewesen sein.»
Deborah lächelte. «Wie gut, dass deine Gebete nicht erhört wurden.»
«Das sehe ich genauso.»
«Wie hat dein Kommissar –»
«Er ist nicht
mein
Kommissar!» Liz entzog Deborah ihre Hand und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. «Ich glaube Stadler inzwischen, dass es einfach nur ein beschissener Zufall war. Damals hat sich die Presse vor allem auf die Geschichte der armen kleinen Schwester gestürzt, deren Freundinnen von ihrem bösen großen Bruder umgebracht wurden. Zwar war nur eins der Mädchen meine Freundin, doch es stimmt, dass ich alle drei kannte. Und dass sie genauso alt waren wie ich. Jedenfalls hat ein Reporter es geschafft, ein Foto von mir zu machen, wie ich mit riesigen angsterfüllten Augen am Gartentor stehe. Er hätte das Bild gar nicht veröffentlichen dürfen, doch nachdem es einmal in der Welt war, tauchte es immer wieder mal irgendwo auf. So auch in einem der unzähligen Bücher, die es zum Thema Serienmord gibt. Und in dem hat Stadler mich wiedererkannt.»
«Und?»
«Nichts weiter. Er sagte plötzlich aus heiterem Himmel: ‹Ich weiß jetzt, warum Sie sich ausgerechnet für Serienmörder interessieren›. Irgendwas in der Art. Da bin ich ausgerastet.»
Deborah nickte langsam. «Verstehe.»
«Immerhin hat er es für sich behalten und nicht seinen Kollegen erzählt.»
Eine Weile schwiegen sie. Liz nippte an ihrem Wein. Sie fühlte sich leicht und frei wie lange nicht mehr. Es tat unendlich gut, sich nicht mehr verstecken zu müssen, zumindest in Gegenwart ihrer Freundin ganz sie selbst zu sein.
«Was ist mit deinen Eltern?», fragte Deborah schließlich. «Wie sind sie damit fertig geworden?»
«Gar nicht», antwortete Liz bitter. «Wir haben nie darüber gesprochen, das Thema war tabu. Ich weiß nicht einmal, wo Hendriks Grab ist. Ob es überhaupt eins gibt.»
«Das muss schlimm sein.»
«Er war trotz allem mein Bruder. Und mir hat er nie etwas Böses getan. Nicht direkt jedenfalls. Nicht dass ich ihn entschuldigen möchte. Aber ich hätte gern die Gelegenheit gehabt, Abschied zu nehmen, und wenigstens hin und wieder über ihn zu sprechen. Aber er war einfach weg. Wie ausradiert.»
«Hast du es mal versucht?», fragte Deborah. «Über ihn zu reden, meine ich.»
«Das habe ich mich nicht getraut. Meine Mutter hat es getan, allerdings auf eine ziemlich merkwürdige Art. Sie tut es noch immer. Erinnerst du dich noch an den Anruf heute Morgen?»
Deborah nickte.
«Sie wollte mir von einem Mann erzählen. Immer sieht sie irgendwo Männer, die Hendrik ähnlich sehen. Seit er tot ist, geht das so. Dann erzählt sie, dass sie ihn gesehen hat. Sie sagt immer ‹ihn›, nie seinen Namen. Mein Vater war es irgendwann leid, er konnte es nicht mehr hören und ist völlig ausgerastet. Seither wagt sie es in seiner Gegenwart nicht mehr, also muss ich mir das anhören. In regelmäßigen Abständen ruft sie an und berichtet mir, dass sie
ihn
gesehen hat. Mal ist es der Postbote, mal der neue Nachbar und manchmal ein Gesicht hinter einer Scheibe.» Liz senkte den Blick. «Sie tut mir leid, aber ich kann ihr diese Last nicht abnehmen. Und oft werde ich schon aggressiv, wenn ich nur ihre Stimme am Telefon höre. Selbst wenn sie aus einem ganz anderen Grund anruft.»
Deborah setzte sich unvermittelt auf. «Die anonymen Briefe, der Unfall dieses Studenten – hat das irgendwas damit zu tun? Hast du deshalb so komisch darauf reagiert?»
Liz warf einen Blick auf ihre
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