Schwesterlein, komm stirb mit mir
Handtasche. Der Umschlag war noch immer ungeöffnet. «Der Mann, über den Ruben etwas herausfinden sollte, heißt Jan Schneider. Er ist derjenige, der damals das Feuer in der Haftanstalt gelegt hat. Soviel ich weiß, wurde er vor einigen Monaten entlassen.»
«Du hältst ihn für den Briefschreiber?»
«Möglicherweise.»
«Warum? Kannte er deinen Bruder?»
«Ich nehme es an.»
«Liz!» Deborah sah sie streng an. «Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Was hat es mit diesem Jan Schneider auf sich? Und warum starrst du die ganze Zeit auf deine Handtasche? Ist der Kerl etwa dadrin?»
Unwillkürlich lachte Liz auf. «Er heißt Jan Schneider, nicht Pan Tau.»
«Okay. Was dann?»
«In der Tasche ist eine weitere anonyme Botschaft. Und bevor du fragst: Ich habe sie noch nicht gelesen.»
Deborah zog eine Augenbraue hoch. «Und Jan Schneider?»
«Etwa ein Jahr nach Hendriks Tod erhielt ich einen Brief. Er kam aus der Haftanstalt. Der Absender nannte sich Karim, den Nachnamen weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich auch nicht, ihm jemals begegnet zu sein, aber er schien mich zu kennen. Der Brief war etwas konfus, klang nach einer abstrusen Verschwörungstheorie. Einem Kleinkriminellen wie ihm würde ja sowieso niemand glauben, hieß es da, aber er wolle mich wenigstens warnen.»
«Vor Jan Schneider?»
«Genau. Ich solle auf der Hut sein, ab dem Tag, an dem Jan Schneider aus der Haft entlassen wird.»
Freitag, 25. Oktober, 8:43 Uhr
Ein schriller Klingelton riss Deborah aus dem Schlaf. Benommen richtete sie sich auf. Ihr Schädel hämmerte. Zu viel Wein. Langsam kehrte die Erinnerung an den gestrigen Abend zurück. Die furchtbare Geschichte, die Liz ihr erzählt hatte. Ihre Freundin Liz, die sie für eine ganz normale, ein bisschen verklemmte junge Frau mit einem sehr speziellen Interessengebiet gehalten hatte. Stimmte das überhaupt? Oder hatte sie alles nur geträumt?
Das Klingeln riss nicht ab. Das Telefon. Warum ging Liz nicht ran? Deborah stand auf und taumelte ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch drängten sich die Reste des Abendessens, eine halbvolle Weinflasche, eine heruntergebrannte Kerze, Teller, Glasschüsseln, Servietten und Besteck. Der Geruch nach kaltem Fett und Alkohol hing in der Luft. Vor dem Sofa standen zwei leere Weingläser. Es war kein Traum gewesen. Deborah stöhnte leise, rieb sich die Stirn und folgte dem Klingeln in die Diele. Liz’ Schlüssel lagen nicht auf der Kommode. Sie war also schon fort.
Unschlüssig stand Deborah vor dem Telefon. Warum hatte Liz keinen Anrufbeantworter? Und warum gab die Person am anderen Ende nicht endlich auf? Ob es Liz war, die Deborah etwas mitteilen wollte? Unsinn, Liz würde ihr eine SMS schicken.
Schließlich griff Deborah nach dem Hörer. «Hallo?»
«Liz? Lizzie, Kind, bist du das?»
«Nein. Hier ist Deborah Arendt, ich bin eine Freundin von Liz. Kann ich Ihnen weiterhelfen?»
«Ah, Deborah. Von Ihnen hat Liz schon gesprochen.»
«Frau Montario?» Unwillkürlich sah Deborah das Bild einer älteren Frau vor sich, das Haar wirr, der Blick gehetzt.
«Ich muss mit Liz sprechen. Sie wollte mich zurückrufen. Es ist dringend.»
«Das hat sie bestimmt nicht vergessen, Frau Montario», sagte Deborah mit betont freundlicher Stimme. «Sie hat im Augenblick nur sehr viel um die Ohren.»
«Ist sie denn nicht zu Hause?»
«Leider nein.» Deborah überlegte kurz, der Frau zu erzählen, dass Liz der Polizei bei einer Ermittlung half, ließ es dann aber lieber. Sie wusste ja nicht einmal, wie weit Liz’ Eltern über die berufliche Spezialisierung ihrer Tochter im Bilde waren. So oder so war das bestimmt ein heikles Thema. «Frau Montario? Ich kann Liz gern etwas ausrichten, wenn Sie möchten. Es geht um einen Mann, den Sie gesehen haben, nicht wahr?»
Am anderen Ende der Leitung blieb es still.
Deborah fuhr sich müde über das Gesicht. Sie war keine Therapeutin, aber sie hatte Erfahrung damit, Menschen dazu zu bringen, ihre geheimsten Wünsche und Sorgen preiszugeben. Deshalb war sie so erfolgreich in ihrem Beruf. «Ich weiß Bescheid, Frau Montario. Liz hat mir von ihm erzählt. Sie können offen mit mir sprechen.»
«Ich weiß nicht recht.»
Deborah wartete einen Augenblick, bevor sie mit sanfter Stimme fragte: «Wo haben Sie ihn denn gesehen?»
«Im Garten», kam es kaum hörbar zurück.
«In Ihrem eigenen Garten? Er hat Ihr Grundstück betreten?»
«Ja.» In der Leitung raschelte es, bevor die Frau weitersprach. «Es war anders als sonst,
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