Schwesterlein, komm stirb mit mir
war entsetzt, und zugleich fand ich das alles furchtbar aufregend. Ich hatte ja keine Vorstellung davon, was genau passiert war. Die Erwachsenen haben sich bemüht, uns Kindern eine bereinigte Version der Wahrheit zu erzählen. Die Ferien gingen vorbei, die Schule begann wieder, und die alltäglichen Dinge überlagerten die Erinnerung an das, was geschehen war. Allerdings nur für wenige Wochen. Dann wurde ein weiteres Mädchen ermordet. Diesmal eine Freundin von mir. Sandra. An dem Nachmittag, bevor sie starb, hat sie mich noch besucht. Es hat geregnet, und wir haben stundenlang Monopoly gespielt. Mir blieb damals überhaupt keine Zeit, mich von dem Schock zu erholen, denn kurz vor den Herbstferien starb ein drittes Mädchen, das ebenfalls in meiner Klasse war. Sie hieß Nicole und war im Sommer auf meiner Geburtstagsparty gewesen. Diesmal hatte der Täter Spuren hinterlassen, sodass die Polizei ihn ausfindig machen konnte. Es war Hendrik, mein großer Bruder.»
«O, mein Gott.» Deborah schlug die Hand vor den Mund.
«Vielleicht hast du von dem Fall gehört», fuhr Liz fort. «Er ging damals monatelang durch die Presse. Ein Siebzehnjähriger, der die Freundinnen seiner kleinen Schwester vergewaltigte und erdrosselte, das war eine ziemliche Sensation.»
Deborah schüttelte den Kopf. «Kann sein, dass ich mal was darüber gelesen habe, aber ich erinnere mich nicht.»
«Jedenfalls brach für mich die Welt zusammen. Von einem Tag auf den anderen war alles zerstört: meine Familie, mein Zuhause, meine Freundschaften. Ich ging nicht mehr zur Schule, weil ich die Blicke der Lehrer und Mitschüler nicht ertrug. Ich ging nicht aus dem Haus, wenn es nicht unbedingt sein musste. Meine Eltern ließen mich gewähren, sie hatten andere Sorgen. Anfangs hatte ich noch Kontakt zu ein paar Freundinnen, doch wir telefonierten nur. Mit meiner besten Freundin, Melanie, redete ich täglich stundenlang. Sie erzählte mir, was alles in der Schule los war, damit ich mich nicht so ausgeschlossen fühlte. Eines Tages bat ich Melanie, mich zu besuchen. Wir hatten uns seit Hendriks Verhaftung nicht mehr gesehen. Sie druckste herum und rückte schließlich damit heraus, dass sie nicht mehr mit mir spielen durfte. Da brach ich den Kontakt ab.» Liz fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Ihre Wangen brannten, jedoch nicht vom Alkohol. Die Erinnerung schmerzte noch immer. «Hendrik wurde zu einer Jugendstrafe verurteilt und kam ins Gefängnis. Mein Vater setzte durch, dass wir den Mädchennamen meiner Mutter annehmen durften, dann zogen wir fort. Nach Hannover. Ich wurde mit einem neuen Namen auf eine neue Schule geschickt, wo niemand wusste, dass ich einen Mörder zum Bruder hatte. Etwa ein halbes Jahr später hat Hendrik Selbstmord begangen. Am gleichen Tag brach in der Haftanstalt Feuer aus. Bei dem Brand kamen zwei weitere Menschen ums Leben. Erst hieß es, dass Hendrik seine Matratze angezündet hat, bevor er sich die Pulsadern aufschlitzte. Doch dann stellte sich heraus, dass ein anderer Häftling für den Brand verantwortlich war. Es hieß sogar, dass er Hendrik getötet und dann das Feuer gelegt hat, um den Mord zu vertuschen. Aber das habe ich nie geglaubt.»
«Wie furchtbar», murmelte Deborah. «Du Ärmste.» Sie ergriff Liz’ Hand und drückte sie.
«Jetzt weißt du, warum Serienmörder mich so sehr beschäftigen. Ich will verstehen, was damals passiert ist.»
«Und verstehst du es?»
Liz schüttelte den Kopf. «Nein. Es ist mir völlig unbegreiflich. Bei anderen Mördern kann ich nachvollziehen, wie sie zu Tätern wurden, aber Hendrik ist mir noch immer ein Rätsel. Er war ein ganz normaler Junge. Er hat nichts von dem getan, was man bei Serienmördern oft beobachtet. Er hat keine Käfer aufgespießt oder Steine nach Hunden geworfen. Er hat keine Tiere oder Mitschüler gequält oder sonst etwas Auffälliges getan. Ich glaube, er hat nicht mal irgendwas in einem Laden mitgehen lassen.»
«Vielleicht hast du nicht alles mitbekommen», sagte Deborah. «Als kleine Schwester warst du womöglich zu nah dran. Und zu jung, um manche Dinge zu begreifen.»
«Das mag sein.» Liz kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe.
«Es wäre doch auch möglich, dass du unangenehme Erinnerungen verdrängt hast, oder? Dass du dich nur an den netten Hendrik erinnerst, weil der andere so schwer zu ertragen ist.»
«Hast du heimlich meine Bücher gelesen?», fragte Liz nur halb im Scherz. «Du hörst dich an, als wärst du diejenige, die
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