Schwesterlein, komm stirb mit mir
sie.
«Was ist merkwürdig?» Stadler überlegte, ob es die Höflichkeit gebot, Liz ins Gestrüpp zu folgen. Doch der Gedanke an seine sündhaft teure Lederjacke ließ ihn zögern.
«Diese Stelle ist zwar schwer zu erreichen, weil jede Menge Brombeerranken im Weg sind, aber sie ist von der Straße her gut einsehbar. Kein sinnvolles Versteck also.»
«Ich denke, es war spontan gewählt», antwortete Stadler. «Noch dazu im Dunkeln. Da konnte der Täter nicht beurteilen, wie gut oder schlecht die Stelle bei Tageslicht einsehbar ist.»
«Eben», bestätigte Liz und kämpfte sich zurück auf den Bürgersteig. «Das hier bestätigt meinen Verdacht, dass nicht nur die Tat im Affekt geschah, sondern der Täter auch danach alles andere als einen kühlen Kopf hatte. Dafür aber vermutlich jede Menge Kratzer an Armen und Händen.»
Stadler verzog nachdenklich das Gesicht. «Das ist eins der belastenden Indizien gegen den Mann, der im Augenblick in Haft sitzt. Seine Hände waren zerkratzt.»
«Aber er hat noch immer nicht gestanden?»
Stadler schüttelte den Kopf.
«Gut, dann auf nach Oberkassel.»
Sie machten sich auf den Weg zum zweiten Tatort auf der anderen Rheinseite. Stadler parkte im Halteverbot vor der Haustür. Ihm fiel ein, dass er vor einer Woche in einer Kneipe gleich um die Ecke seine erste Verabredung mit Liz gehabt hatte. Und dass er sich über die Wahl des Treffpunkts gewundert hatte.
«Haben Sie eigentlich sofort gewusst, was ich von Ihnen will, als ich Sie letzte Wochen kontaktiert habe?», fragte er, nachdem sie ausgestiegen waren.
«Wie kommen Sie darauf?» Liz sah ihn überrascht an.
«Der Treffpunkt, den Sie vorgeschlagen haben, ist ganz in der Nähe. Ich dachte, dass Sie den Fall vielleicht in der Presse verfolgt haben und den Tatort sofort sehen wollten.»
Montario lächelte. «Anscheinend glauben Sie, dass ich hellsehen kann. Aber ich bin Psychologin, keine Wahrsagerin. Ich hatte vorher einen Termin in der Luegallee, Signierstunde in einer Buchhandlung.»
«Sie rauben mir meine letzte Illusion.»
«Sie werden darüber hinwegkommen, da bin ich ganz sicher.»
Die Wohnung von Leonore Talmeier war versiegelt. Stadler öffnete die Tür und ging voran ins Wohnzimmer. Die Blutflecke waren noch nicht entfernt worden, bis auf die fehlende Leiche wirkte der Raum fast unverändert.
«Können Sie sich auf den Boden legen?», bat Montario.
«Was?» Stadler blickte entsetzt auf den blutgetränkten Teppich.
«Ziehen Sie die Jacke aus, legen Sie ein Handtuch unter, aber tun Sie mir bitte den Gefallen. So kann ich mir das besser vorstellen.»
Widerstrebend gehorchte Stadler. Im Bad fand er ein großes Handtuch, das er sich unterlegte. Dann positionierte Montario seine Arme und Beine so, dass er in etwa die Lage der toten Frau einnahm. Es war ein komisches Gefühl, in die Haut eines Mordopfers zu schlüpfen. Normalerweise zog er es vor, sich in den Täter hineinzuversetzen, die Tat mit dessen Augen zu sehen und ihm so auf die Spur zu kommen. Auf diese Weise identifizierte er sich mit dem aktiven, aggressiven Part. In der Rolle des Opfers fühlte er sich merkwürdig schutzlos.
Liz Montario betrachtete ihn von allen Seiten. Sie ging in die Hocke, ließ den Blick schweifen, richtete sich wieder auf. Schließlich erlöste sie ihn aus seiner demütigenden Position. «Sie können wieder aufstehen, danke.»
Stadler erhob sich. «Und? Irgendwelche Erkenntnisse?»
Montario zuckte mit den Schultern. «Keine. Bis auf die Tatsache, dass ich jetzt noch mehr Zweifel daran habe, dass Manuel Geismann von demselben Mann umgebracht wurde wie die anderen Opfer. Es gibt Parallelen zwischen den beiden letzten Tatorten. Das Weiß, die Ordnung, die Sterilität, die durch das viele Blut besudelt wurden. Doch der Bahndamm war nie sauber. Und das Blut, das Geismann vergossen hat, ist einfach in der Erde versickert.»
Sie kehrten ins Präsidium zurück und setzten sich in die Kantine. Der Raum war fast leer, nur in einer Ecke saßen ein paar Kollegen und unterhielten sich leise. Eine Weile hingen sie ihren Gedanken nach. Unauffällig musterte Stadler die Frau, die mit müden Augen in ihren Kaffee starrte. Was wohl in ihrem Kopf vorging? Erinnerte sie das alles an ihren Bruder? Wie wurde man mit einem solchen Schicksal fertig?
Er beugte sich vor. «Sie sehen erschöpft aus, Liz. Ich nehme an, das alles nimmt Sie ziemlich mit. Dieser Fall ist furchtbar. Und die Verantwortung, die auf uns allen lastet, macht es nicht
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