Schwesterlein, komm stirb mit mir
hat?», fragte Degenhard.
«Das weiß ich nicht. Meine Freundin hat den Anruf entgegengenommen. Angeblich war er meinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber Hendrik sah meinem Vater überhaupt nicht ähnlich.»
«Ansonsten wissen Sie nichts?»
Liz schüttelte den Kopf. «Keine Drohanrufe, das hätten sie mir bestimmt erzählt.»
«Gut. Für den Augenblick ist das alles. Ich danke Ihnen.» Degenhard wirkte wie ausgewechselt. Von der anfänglichen Ruppigkeit war nichts mehr zu spüren. Womöglich war ihm selbst aufgefallen, wie unangemessen er sie behandelt hatte. Sein Kollege Patrick Stürmer hatte wieder angefangen, mit seinem Zigarettenpäckchen zu spielen. Seine Feindseligkeit war mit Händen greifbar.
Die Tür wurde aufgestoßen, und Notebüll trat ein, eine Tasse Kaffee in der Hand. Er platzierte das Getränk vor Liz. «Hat leider ein bisschen gedauert.»
«Wir sind gerade fertig.» Degenhard lächelte entschuldigend. «Aber Sie können natürlich gern noch Ihren Kaffee trinken.»
Liz nahm einen raschen Schluck. Der Kaffee war fast kalt und schmeckte bitter. «Danke, aber ich fahre jetzt lieber ins Krankenhaus», sagte sie und erhob sich.
Degenhard stand ebenfalls auf und reichte ihr die Hand. «Es kann sein, dass wir später noch Fragen an Sie haben. Nachdem wir mit Ihrem Vater gesprochen haben. Bleiben Sie in Hannover?»
Der Gedanke an ein einsames, steriles Hotelzimmer ließ Liz schaudern. «Ich fahre zurück nach Düsseldorf. Sie erreichen mich zu Hause.» Sie ging zur Tür. Sie hatte die Klinke schon in der Hand, als ihr einfiel, was Stadler sie gefragt hatte. Sie drehte sich um. «Hat der Täter das Messer im Haus gefunden oder hat er es mitgebracht?»
«Das Messer?» Degenhard sah erst sie verwundert an und dann Notebüll, der verlegen den Kopf senkte. «Ihre Eltern wurden nicht mit einem Messer verletzt. Die Tatwaffe war eine Rasierklinge.»
Samstag, 2. November, 8:42 Uhr
Wider Erwarten hatte Liz geschlafen wie ein Stein. Unter der Dusche wurde sie allmählich wach, und die Erinnerung an das, was sie am Tag zuvor in Hannover erfahren hatte, kehrte zurück. Ihre Eltern waren mit einer Rasierklinge angegriffen worden. Mit der gleichen Waffe, mit der Hendrik sich das Leben genommen hatte. Liz hatte sofort begriffen, weshalb Kriminalhauptkommissar Degenhard von einem gezielten Anschlag ausging. Welcher Einbrecher hatte eine Rasierklinge dabei, um sich im Notfall zur Wehr zu setzen? Eine Rasierklinge war die denkbar ungünstigste Verteidigungswaffe. Um sie zu benutzen, war sehr enger, sehr riskanter Körperkontakt notwendig. Jedes Taschenmesser, ja sogar jeder Baseballschläger war einfacher zu handhaben.
Die Rasierklinge war eine Botschaft. Doch von wem? Was bedeutete sie? Späte Rache von jemandem, der Hendrik Vermeerens Eltern die Schuld dafür gab, dass ihr Sohn ein Serienmörder war? Wer könnte über so viele Jahre so viel Hass aufgestaut haben? Und warum hatte er gerade jetzt zugeschlagen?
Jan Schneider. Er war erst kürzlich aus dem Gefängnis entlassen worden. Er hatte den Richter umgebracht, der ihn verurteilt hatte, davon war Liz überzeugt, auch wenn die Polizei noch zweifelte. War es möglich, dass Schneider ihre Eltern für seine lange Haft verantwortlich machte? So wie den Richter? Das ergab nur Sinn, wenn nicht Schneider, sondern Hendrik das Feuer gelegt hatte.
Liz drehte das Wasser ab. Das würde einiges erklären. Unter anderem auch, warum die Polizei in Bonn sich so schwer damit tat, Georg Stadler die Akte von Jan Schneider zu schicken. Vermutlich war die Beweislage gegen ihn ziemlich dünn. Vielleicht hatte sich sogar irgendwann herausgestellt, dass Schneider gar nicht der Brandstifter sein konnte. Aber aus irgendeinem Grund wurde er trotzdem verurteilt. Um einen Skandal zu vertuschen, Schlamperei bei den Ermittlungen oder bei den Sicherheitsvorkehrungen in der JVA .
Und nun war Jan Schneider frei und rächte sich an allen, denen er die Schuld daran gab, dass er zu Unrecht verurteilt worden war. Und da er sich an Hendrik Vermeeren nicht mehr rächen konnte, hatte er dessen Eltern dafür bezahlen lassen. Verdammt. Das klang alles sehr schlüssig. Vermutlich waren weitere Menschen in Gefahr. Sie musste sofort mit Stadler telefonieren.
Liz griff nach dem Handtuch und ging ins Wohnzimmer. Draußen schien die Sonne und ließ den Rhein glitzern. Zu dumm, dass ihr Vater gestern noch nicht ansprechbar gewesen war. Er lag zwar nicht mehr im Koma, aber er hatte nur ein paar
Weitere Kostenlose Bücher