Schwesterlein, komm stirb mit mir
zu drücken? Selbst mit seiner eigenen Tochter? Am liebsten hätte sie ihn wachgerüttelt und Antworten verlangt. Aber es hätte nichts gebracht. Frustriert erhob sie sich und ging zur Tür. Ohne sich noch einmal umzusehen, verließ sie das Krankenzimmer.
Auf dem Korridor kam ihr ein Gedanke. Ihre Mutter hatte zu Deborah gesagt, dass der Mann im Garten – der Mann, den sie für Hendrik gehalten hatte – seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten sei. Vielleicht hatte sie nicht ihren Ehemann gemeint, sondern Hendriks leiblichen Vater, ihren Vergewaltiger. War es möglich, dass sich sein Gesicht so tief in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte, dass sie ihn nach all den Jahren wiedererkannt hatte? Oder hatte sie über all den Kummer den Verstand verloren?
Samstag, 2. November, 16:53 Uhr
«Hallo, Liz», sagte Stadler ins Telefon. «Schön, dass ich dich endlich erreiche. Meinst du, du könntest aufs Präsidium kommen? Es gibt einiges zu besprechen.»
Am anderen Ende der Leitung blieb es still.
«Liz? Alles in Ordnung? Bist du sauer, weil ich gestern nicht angerufen habe?» Stadler lehnte die Stirn gegen das kühle Glas des Bürofensters. Er war allein, Birgit war mit Jürgen von der KTU auf dem Weg in die Eifel, wo Kollegen ein Fahrzeug mit verdächtigen Unfallspuren ausfindig gemacht hatten.
Liz sagte noch immer nichts. Warum waren Frauen nur so kompliziert?
«Liz? Was ist los?»
«Sorry. Ich musste mein Zimmer aufschließen. Ich bin in Hannover, ich werde heute hier übernachten. Im Hotel.»
Stadler glaubte nicht, dass das der einzige Grund für ihr langes Schweigen gewesen war, doch er wollte sie nicht bedrängen. «Wie geht es deinem Vater? Konntest du schon mit ihm sprechen?»
«Es geht ihm ganz gut.»
«Und? Hat er etwas zu dem Einbrecher gesagt? Konnte er den Mann beschreiben?»
Stadler hörte Liz seufzen. «Nein. Weder mir noch der Polizei. Er scheint ein völliges Blackout zu haben. Dafür erinnert er sich umso besser an Dinge, die Jahrzehnte zurückliegen.» Wieder ein Seufzen.
«Etwas Bestimmtes?» Gedankenverloren griff Stadler nach einem Buch, das er von zu Hause mitgebracht hatte.
«Er hat – nein, nichts Bestimmtes. Ich bin total erschöpft. Das alles wächst mir über den Kopf.»
Er stellte überrascht fest, dass er gern bei ihr wäre. Ohne Hintergedanken, einfach nur, um ihr beizustehen. Dabei hatte er sich bisher nie für einen großen Frauenversteher gehalten. Und er hatte nicht vor, einer zu werden. Trotzdem sagte er: «Mein Sofa steht dir jederzeit zur Verfügung.»
Liz lachte leise. «Danke.»
«Du hast mich heute Morgen versucht zu erreichen. Gab es einen bestimmten Grund?»
«Allerdings.» Sie klang mit einem Mal entschlossen. Etwas in ihr schien stärker zu sein als die Verzweiflung. «Ich bin mir inzwischen sicher, dass Jan Schneider sich auf einem Rachefeldzug befindet.»
«Aber doch nicht an Ruben Keller.» Stadler blätterte.
«Lassen Sie mich ausreden.»
«
Lass
mich ausreden», verbesserte Stadler. «Wir hatten uns auf
du
geeinigt.» Bloß keinen einmal gewonnenen Boden wieder aufgeben.
«Meinetwegen. Lass mich ausreden.» Sie klang jetzt beinahe ungeduldig. «Stell dir Folgendes vor: Mein Bruder war damals doch der Brandstifter. Er hat das Feuer gelegt, bevor er sich umbrachte, so wie es zuerst auch gemeldet wurde. Aus irgendeinem Grund wurde die Brandstiftung jedoch Jan Schneider angelastet. Der Grund spielt im Augenblick keine Rolle. Fest steht nur, dass er sechzehn Jahre unschuldig im Gefängnis saß. Und jetzt sollen alle bezahlen, die er dafür verantwortlich macht. Bis auf Ruben Keller. Der musste vermutlich sterben, weil er Schneider auf die Schliche gekommen ist. Er war kein Teil seines Racheplans.»
«Und deine Eltern mussten anstelle deines Bruders dran glauben?»
«Genau. Und der Lehrer hat vermutlich ebenfalls seinen Teil zur Verurteilung beigetragen. Wie, weiß ich nicht.»
Stadler richtete sich überrascht auf. «Davon weißt du auch schon? Kennst du Friedrich Burgmüller?»
«Ich habe kürzlich mit seiner Frau gesprochen. Sie sagte, er wurde ertränkt. Stimmt das?»
«Ja. In einem Baggersee. Jemand hat ihm ein Betäubungsmittel injiziert und ihn danach ins Wasser geworfen.»
«Jan Schneider ist offenbar nicht auf eine bestimmte Tötungsart festgelegt», stellte Liz nüchtern fest. «Ziemlich clever, denn so ist es viel unwahrscheinlicher, dass jemand einen Zusammenhang zwischen den Taten herstellt. Und? Was hältst du von meiner
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