Schwesterlein muss sterben
Haus. Für Julia war jedenfalls klar gewesen, dass sie jede Gelegenheit nutzen musste, um sich heimlich in ihrem Arbeitszimmer umzusehen. So nach der Theorie: Bestimmt hat meine Mutter irgendwas zu verbergen, was mich in meinem Erwachsenwerden um mindestens ein Level nach vorne bringt! Das passierte zwar nie, aber Julia ließ mit ihren Anstrengungen nicht locker. Und es gab Zeiten, da wusste sie über die verschiedenen Artikel, an denen ihre Mutter gerade arbeitete, wahrscheinlich besser Bescheid als Merette selbst. Ganz zu schweigen von dem »Therapiegespräch«, das Julia mit dem blonden Anders mit dem breiten Grinsen und den algengrünen Augen auf ihren Sesseln geführt hatte und das schließlich auf der Ledercouch geendet war.
Es konnte durchaus sein, dass ihre Mutter immer schon von Julias heimlichen Ausflügen in ihr Arbeitszimmer wusste, aber sie hielten beide die Fassade aufrecht, dass Julia ihre Grenzen respektieren würde und Merette keinen Anlass hätte, ihr zu misstrauen – was gerade in Zeiten, indenen ihr Mutter-Tochter-Verhältnis alles andere als gut war, eine sinnvolle Übereinkunft schien, die viel unnötigen Streit zu vermeiden half.
Umso mehr irritierte Julia jetzt, worauf Merette mit ihrer Frage hinauswollte. Sie hätte schwören können, dass es ihr in Wirklichkeit ausschließlich um diese Aufnahme ging, die sie im Player vergessen hatte. Ohnehin war sie mittlerweile so weit, ihre Theorie mit dem »Übungs-Gespräch« über Bord zu werfen und durch einen Fall zu ersetzen, der ihrer Mutter offensichtlich mehr zu schaffen machte als sonst üblich. Was allein nach den wenigen Sätzen, die sie gestern gehört hatte, auch nicht weiter verwunderlich war …
Aber wider Erwarten gab sich Merette jetzt mit der Erklärung, dass es nur um die CD gegangen wäre, zufrieden und schien gewillt, die ganze Sache auf sich beruhen zu lassen. Allerdings machte sie auch keine Anstalten, das Gespräch zu beenden, im Gegenteil, sie redete plötzlich drauflos, als würden sie sich in trautem Einvernehmen gegenübersitzen und alle Zeit der Welt haben.
Julia gab ihren Kommilitonen ein Zeichen, dass sie gleich zurückkomme, und ging mit dem Handy am Ohr nach draußen.
»Schade, dass ich gestern unterwegs war, als du vorbeigekommen bist, ich hätte gern einen Kaffee mit dir getrunken«, kam Merettes Stimme aus dem Handy. »Aber danke für die Rosen, die du mir auf den Küchentisch gestellt hast. Ich habe mich sehr über den Strauß gefreut, obwohl Frans sich heute Morgen endlos darüber aufgeregt hat, dass schon wieder irgendjemand Rosen bei ihnen geklaut hat …«
Sie ließ den Satz offen, als sollte er eine indirekte Fragesein. Julia grinste nur, ohne eine Antwort zu geben. Frans und Dörte waren die Nachbarn ihrer Mutter, deren ganzer Stolz das Rankgerüst mit den Kletterrosen in ihrem Vorgarten war. Allerdings hatte Julia nicht gedacht, dass sie es tatsächlich merken würden, wenn ein paar Blüten fehlten.
»Und, fühlst du dich immer noch wohl in deiner neuen Wohnung?«, kam jetzt Merettes nächste Frage.
Irgendetwas stimmte nicht, dachte Julia. Es war nicht Merettes Art, am Telefon einfach so vor sich hin zu plaudern. Sie holte tief Luft, bevor sie in einem ähnlich unverfänglichen Ton antwortete: »Ja, die Wohnung ist total cool, echt. Wenn ich erst mal alles fertig habe, wird es der absolute Traum sein. Ich werde mir übrigens den Zeichentisch auf das Flachdach vor meinem Fenster stellen, dann kann ich draußen arbeiten. Das Wetter soll gut bleiben für die nächsten Wochen. Und man kann fast bis zu den Inseln hinüberblicken von da oben und bis zu dem Anleger für die Kreuzfahrtschiffe. Du musst unbedingt mal kommen. Ich habe das Dach für mich ganz alleine, das wird dir gefallen!«
»Apropos alleine, da fällt mir gerade was ein: Du lässt niemanden in die Wohnung, den du nicht kennst, hörst du?«
»Was soll das? Wieso …«
»Es braucht dich nur irgendjemand zu beobachten und mitzukriegen, dass du alleine dort wohnst.«
»Und dann? Kommt er in meine Wohnung und … Hör auf, Mama, das ist Blödsinn.«
»Es gibt so viele Typen, die irgendeine Macke haben.«
»Das weißt du mit Sicherheit besser als ich«, konnte Julia es nicht lassen anzubringen.
Aber ihre Mutter blieb ganz ernst.
»Eben, deshalb erwähne ich es auch noch mal.«
»Ich bin schon groß, Mama«, sagte Julia jetzt, »hör auf, dir ständig Sorgen um mich zu machen!«
»Aber du bist auch immer noch meine Tochter. Und glaub mir,
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