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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freda Wolff
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Scheitel waren deutliche Spuren von Grau zu erkennen. Merette streckte ihr die Hand hin.
    »Das ist schön, dass ich gleich jemanden aus dem Haus kennenlerne. Ich bin Merette Schulman, meine Tochter Julia ist vor ein paar Tagen in die Dachwohnung über Ihnen gezogen …«
    Weiter kam sie nicht.
    »Und sie war heute Mittag um zwei schon so betrunken, dass sie nicht mehr alleine gehen konnte. Ich weiß Bescheid.«
    »Was?«, fragte Merette verunsichert. »Aber das kann nicht sein, da müsste sie doch noch in der Uni …«
    »Echt? Voll weggeschossen oder was?«, mischte sich der Sohn interessiert ein.
    »Du hältst dich da mal schön raus«, wies ihn seine Mutter zurecht. Um gleich darauf, an Merette gewandt, hinzuzusetzen: »Ich bin nicht gerade begeistert, das können Sie mir glauben. Ich hab schon so genug Ärger, da brauche ich nicht auch noch irgendwelche randalierenden Studenten über mir. Und dann auch noch am helllichten Tag. Vielleicht erklären Sie mir mal, wie ich mit so einem Beispiel vor Augen einen Fünfzehnjährigen erziehen soll.«
    »Jetzt mal langsam«, versuchte Merette, den Wortschwall zu unterbrechen. »Sie haben also meine Tochter gesehen, wie sie heute Mittag …«
    »Gehört und gesehen, allerdings. Erst das Gepolter im Treppenhaus, und dann dieses höchst romantische Bild, als ich aus dem Fenster gesehen habe, weil ich wissen wollte, was da eigentlich los ist, und das kleine Liebespärchen Arm in Arm über den Hof getorkelt kam.«
    Ironie lag ihr offensichtlich nicht besonders, dachte Merette kurz, aber etwas anderes ließ sie aufhorchen.
    »Meine Tochter war also nicht alleine, sondern mit einem Mann oder Jungen …«
    »Alleine hätte sie ja gar nicht mehr laufen können. Der junge Mann hat sie mehr oder weniger tragen müssen!«
    »Und Sie sind sich sicher, dass es meine Tochter war? Blonde Locken bis über den Rücken und … Haben Sie meine Tochter denn vorher schon mal gesehen?«
    Der Fünfzehnjährige kicherte. »Ich hab sie schon mal gesehen! Mit so einem kurzen Minirock und so. Voll cool!«
    Als seine Mutter ihm einen verärgerten Blick zuwarf, zog er die Schultern hoch und wurde im nächsten Moment knallrot. »Ich mein ja nur. Echt gut. Irgendwie.«
    »Natürlich war es Ihre Tochter«, wandte sich seine Mutterwieder an Merette. »Wer soll es sonst gewesen sein? Blond ja, stimmt schon. Außerdem kamen sie ja schließlich von oben! Und da wohnt doch bislang nur Ihre Tochter, oder?«
    Merette nickte kurz, bevor sie fragte: »Der junge Mann, der bei ihr war, können Sie den beschreiben?«
    »So ein Typ eben, mit einer Kapuze über dem Kopf, so wie sie alle rumlaufen. Mehr weiß ich auch nicht. Interessiert mich ja eigentlich auch nicht. Nicht dass Sie denken, ich wäre neugierig oder so was. Es ist nur so, dass man ja gerne weiß, was im Haus passiert. Und wenn ich ehrlich sein soll, wäre es vielleicht ganz gut, wenn Sie mit Ihrer Tochter mal reden. Das muss ja doch nicht sein, dass sie sich schon mittags volllaufen lässt.«
    Merette war klar, dass sie keine weiteren Informationen bekommen würde, die in irgendeiner Weise hilfreich wären. »Ich danke Ihnen jedenfalls erst mal«, beendete sie das Gespräch, konnte es dann aber doch nicht lassen, noch hinzuzusetzen: »Und ich wünsche Ihnen alles Gute mit Ihrem Sohn, ist kein leichtes Alter, aber Sie kriegen das schon hin, da bin ich mir sicher.«
    Als sie im Erdgeschoss war, zog sie den Keil unter der Tür hervor und schob ihn beiseite. Mit einem Knirschen fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.
    Merette lief über die frisch eingesäte Rasenfläche zur Rückseite des Hauses. Eine Weile stand sie vor der Feuertreppe, die Leiter, die zu den ersten Stufen führte, war hochgezogen und vom Boden aus nicht zu erreichen. Nicht mal für jemanden, der deutlich größer war als sie.
    Sie tastete nach den Zigaretten, die sie vorhin noch gekauft hatte. Sie inhalierte tief und wartete auf das leichteSchwindelgefühl, das das Nikotin auslösen würde. Eine Liedzeile von John Lennon schoss ihr durch den Kopf: »Blow your worries to the sky.« Aber so einfach war es nicht.
    Sie checkte ihr Handy, ob sich Julia gemeldet hatte. Nichts.
    Julia war bis zum frühen Nachmittag in der Uni beschäftigt gewesen, das hatte sie ihr heute Morgen gerade erst noch erzählt. Irgendein Treffen, das mit ihrem Projekt zu tun hatte. Sie hatte noch Sorge gehabt, dass sie es vielleicht nicht rechtzeitig schaffen würde, um Marie vom Bahnhof abzuholen. Und ganz sicher hatte

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