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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freda Wolff
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sie sich nicht stattdessen alleine in ihrer Wohnung betrunken! Das passte nicht zu ihr. Nein, es konnte nicht Julia gewesen sein. Blond! Marie war doch ebenfalls blond, vielleicht war es Marie mit irgendeinem Typen gewesen, den sie aus Oslo mitgebracht hatte. Aber warum sollte Marie so betrunken gewesen sein, dass sie kaum noch laufen konnte? Also jemand ganz anders, Freunde von Julia vielleicht, die sie nicht kannte. Wie war die Formulierung gewesen? Der junge Mann hat das Mädchen mehr oder weniger tragen müssen … Ein junger Mann, von dem die Nachbarin nichts weiter sagen konnte, als dass er eine Kapuze über dem Kopf gehabt hatte. Von einem Hoodie oder … einem Jogginganzug!
    Wann hatte Merettes Patient die Sitzung abgebrochen und war gegangen? Um elf hatte sie ihn bestellt, länger als eine halbe Stunde war er nicht bei ihr gewesen, noch nicht mal, eher zwanzig Minuten. Höchstens. Und er hatte einen Jogginganzug angehabt, meinte sie sich zu erinnern, wie schon beim ersten Mal. Aber das ergab alles keinen Sinn, dachte sie. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass es irgendeinen Zusammenhang geben könnte.
    Sie hatte sich die Anschrift ihres Patienten aus der Akte abgeschrieben und den Zettel in ihr Adressbuch geschoben, ohne genau sagen zu können, warum eigentlich. Jetzt kramte sie das Adressbuch zwischen ihren Sachen hervor, der Zettel steckte gleich vorne, noch vor der ersten Seite. Sie wusste genau, was sie mit ihrem Besuch riskieren würde. Zumindest hatte er dann tatsächlich etwas gegen sie in der Hand, das eindeutig alle Regeln ihres Berufs verletzte.
    Merette schnippte ihre Zigarette auf den Boden und trat die glimmende Kippe sorgfältig aus. Mit schnellen Schritten lief sie durch die Toreinfahrt zurück auf die Straße. Der Volvo stand noch da, wo sie ihn abgestellt hatte. Allerdings hatte ihr irgendein Witzbold einen Zettel hinter den Wischer geklemmt: Denk daran, Gott sieht ALLES! Unwillkürlich lachte sie leise auf.
    Die Nygårdsgate war eine von Bergens hässlicheren Straßen, die sich vom Zentrum bis zum Autobahnzubringer am Anfang des Sotraveien hinzogen, das Haus, in dem ihr Patient wohnte, hatte nicht nur dringend einen neuen Anstrich nötig. Aber wahrscheinlich würde es ohnehin über kurz oder lang irgendeinem einfallslosen Betonkomplex weichen müssen. Die paar Sozialhilfeempfänger, Rentner und Kleindealer, die da zurzeit noch wohnten, würden die fortschreitende Gentrifizierung kaum aufhalten können.
    Merette parkte den Volvo schräg auf dem Fußweg, sie hatte nicht vor, sich lange aufzuhalten. Eigentlich wollte sie nur sehen, wie er reagieren würde. Und ob er vielleicht ein blondes Mädchen bei sich in der Wohnung hatte. Wenn er überhaupt zu Hause wäre!
    Er wohnte gleich im Erdgeschoss. Aus einem geöffnetenFenster weiter oben wummerte harter Elektrobeat. In seiner Wohnung brannte kein Licht. Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und die Augen mit der Hand abschirmte, um durchs Fenster zu blicken, sah sie eine verschlissene Couch, die zum Bett ausgezogen war.
    Der Raum war offensichtlich Wohn- und Schlafzimmer in einem. Einen Schrank schien es nicht zu geben, irgendwelche Kleidungsstücke lagen verstreut auf dem Boden, an der Wand stapelten sich Berge von Zeitschriften, darüber hing ein Poster von Jimi Hendrix. Durch das Küchenfenster bot sich ein ähnliches Bild, nicht abgewaschenes Geschirr in der Spüle und auf dem Tisch, prallgefüllte Müllsäcke neben der Tür, über dem einzigen Stuhl hing eine Lederjacke.
    Aber es war eindeutig niemand zu Hause. Als Merette sich gerade abwenden wollte, fiel ihr Blick auf das Flipchart, das an der Wand links vom Fenster lehnte und seltsam fehl am Platz wirkte. Es war eine dieser Tafeln, auf denen man direkt mit speziellen Filzstiften schreiben konnte. Im ersten Moment starrte sie ratlos auf die verschiedenen Kreise, die durchnummeriert und mit Pfeilen verbunden waren. Dann begriff sie, dass sie so etwas wie ein Diagramm vor sich hatte. Und trotz des schlechten Lichtes gelang es ihr, das Wort zu entziffern, das in Großbuchstaben an der unteren Kante stand und mehrfach umrandet war, als sollte es eine Art Titel für die gesamte Grafik darstellen: SCHWESTERLEIN. Dahinter hatten noch zwei weitere Wörter gestanden, waren aber verwischt, als wäre jemand aus Versehen mit dem Ärmel an die Tafel gekommen. Merette konnte nur noch ein M erkennen und ganz am Ende ein E und ein N.
    Eine Stimme in ihrem Rücken ließ sie

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