Schwesterlein muss sterben
einem neuen Straßenimbiss in der Strandgate noch eine Falafel mitgenommen, jetzt saß sie kauend auf einer Parkbank, blickte aufs Meer und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren.
Sie musste mit Julia reden! Das war im Moment das Wichtigste, auch wenn sie damit gegen ihre eigenen Regeln verstieß.
Eigentlich hatte sie vorgehabt, die paar Minuten an ihrem Haus vorbei und bis zur Magnus Barfots Gate ebenfalls zu Fuß zu gehen, aber dann nahm sie doch den Volvo.
Natürlich war es idiotisch, in Bergen mit dem Auto herumzufahren, aber sie wollte das Gefühl der Sicherheit haben, das der Wagen ihr verschaffte – ihr ganz persönlicher Kokon, in den sie sich jederzeit zurückziehen konnte, wenn die Außenwelt ihr zu bedrohlich wurde.
Sie war bislang noch kein einziges Mal in Julias neuer Wohnung gewesen, sie hatten sich nur zusammen das Haus von außen angesehen, kurz bevor Julia dann den Mietvertrag unterschrieben hatte. Merette parkte im absoluten Halteverbot gleich neben der Einfahrt zu einer Garage.
Als sie in den engen Hinterhof kam, war sie für einen Moment irritiert. Wenn sie sich richtig erinnerte, war der Hof beim letzten Mal noch gepflastert gewesen und es hatte auch irgendeine Art von Gartenpavillon oder Grillstelle gegeben. Jetzt war da nichts als eingeebneter Boden, bei genauerem Hinsehen erkannte sie frisch ausgestreuten Grassamen. Die Tür zum Hinterhaus stand offen, Merette stieg die Treppe hoch und formulierte im Kopf bereits die ersten Sätze, die sie zu ihrer Tochter sagen wollte: »Sorry, Julia, dass ich hier einfach so reinplatze, ohne dir vorher Bescheid zu sagen. Aber wir müssen kurz miteinander reden, am Telefon geht das nicht.«
Erst als sie bereits auf dem letzten Treppenabsatz angekommen war, fiel ihr wieder ein, dass Julia ja Besuch bekommen hatte. Das Timing war also alles andere als glücklich, aber da es sich bei dem Besuch um Marie handelte, sollte es eigentlich kein Problem geben.
Bevor sie auf die Klingel drückte, blickte sie sich nocheinmal um. Gegenüber der Wohnungstür ging eine zweite Tür von der Treppe ab. Als sie die Klinke drückte, hatte sie eine Putzkammer vor sich. Besen, Kehrblech, Wischeimer, Putzmittel, Bohnerwachs für die Holzstufen. Ein mit Rigipsplatten abgetrennter Verschlag für die Utensilien zur Treppenhausreinigung, mehr nicht. Aber die Kammer war groß genug, um sich darin verstecken zu können, und die Tür war nicht abgeschlossen, so dass durchaus irgendjemand hier in aller Ruhe warten konnte, bis …
Hör auf, Merette, schalt sie sich selbst, mal keine Gespenster an die Wand!
Sie holte tief Luft und klingelte. Wartete einen Moment, klingelte noch mal, länger diesmal. Aber aus der Wohnung war nicht das kleinste Geräusch zu hören, keine Schritte, kein »Ich komme schon«, nichts. Julia schien nicht zu Hause zu sein.
Merette holte das Handy aus ihrer Tasche. Es war Freitagabend, Julia hatte Besuch von ihrer besten Freundin, die schon ewig nicht mehr in Bergen gewesen war, wer weiß, wo die beiden stecken, dachte Merette. Auf die Idee hätte ich auch vorher kommen können, dass sie wahrscheinlich unterwegs waren, um die Stadt unsicher zu machen. Nervös wartete sie auf den Klingelton. Als sich nur die Mailbox einschaltete, brauchte sie einen Moment, bevor sie ihre Nachricht auf Band stotterte: »Hier ist … Merette, ich … ruf mich mal bitte zurück, es ist wichtig. Heute noch, ja? Egal, wie spät es ist, hörst du?«
Sie schob das Handy zurück in die Tasche und machte sich wieder auf den Weg nach unten. Als sie in der nächsten Etage Stimmen aus der Wohnung hörte, zögerte sie nicht lange, sondern klingelte einfach.
Ein ungefähr fünfzehnjähriger Junge machte die Tür auf.
»Entschuldigung«, setzte Merette an. »Aber ich bin die Mutter von Julia, die ganz oben eingezogen ist und … meine Tochter ist gerade nicht zu Hause.«
»Hier ist sie auch nicht«, kam prompt die leicht patzige Antwort, die sie sich allerdings selbst zuzuschreiben hatte. Wahrscheinlich wirkte es nicht gerade überzeugend, wenn eine leicht hysterische Mutter ihrer erwachsenen Tochter nachspionierte.
Aber bevor Merette noch irgendetwas anbringen konnte, was ihr Verhalten vielleicht zumindest entschuldigen würde, kam eine Frau in ihrem Alter an die Tür, offensichtlich die Mutter des Halbwüchsigen.
»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
Ihr Ton war alles andere als freundlich. Sie trug die schwarz gefärbten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, am
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