Schwesterlein muss sterben
Männer versuchten, kaum dass sie Merettes Beruf kannten, jeden Ansatzpunkt für eine mögliche Interpretation zu vermeiden – die vor der Brust verschränkten Arme, die Ablehnung signalisieren würden, das nervöse Zupfen mit der Hand am Hemdkragen, das ihnen plötzlich als verräterisch bewusst wurde, der automatische Griff zur Zigarette, der auf ihre Sucht hindeutete.
Der Pastor war nicht anders, schließlich schob er die eine Hand in die Hosentasche, während er mit der anderen einen Aschefleck von der Soutane wischte.
»Also gut, was willst du wissen?«
»Das Mädchen, das beim Spielen ertrunken ist … Hat es da eine Untersuchung gegeben? Also, ich meine, war die Polizei da?«
»Ja, war sie. Eindeutig ein Unglücksfall, ohne jeden Zweifel. Sie muss von den Felsen gerutscht sein, das ist die einzige Erklärung. Kein Verdacht auf Suizid, für deine Studie gibt das also nichts her. Sie war ja auch erst zwölf, das ist normalerweise zu früh, um sich das Leben zu nehmen. Außerdem kannte ich sie, genauso wie ich die Familie kenne. Da gibt es nichts, was in irgendeiner Weise … auffällig wäre.« Er nickte zum Dorf hinunter. »Wir leben hier noch in so was wie einer heilen Welt, verstehst du? Das ist nicht wie in der Großstadt, auch wenn es natürlich trotzdem das eine oder andere Problem gibt, wie überall.«
Merette hatte plötzlich wieder die Häuser mit den ausrangierten Kühlschränken in den Einfahrten vor Augen, den mit Brettern vernagelten Gasthof, die verlassene Hütte, an der sie gerade gewesen war. Nach »heiler Welt« sahdas nicht unbedingt aus. »Wir kümmern uns hier umeinander«, sagte der Pastor.
Irgendwas in seiner Stimme ließ Merette aufhorchen. Vorsichtig erwiderte sie: »Die Erfahrung zeigt, dass häufig genug hinter einer scheinbar intakten Fassade …«
»Ich weiß, worauf du hinauswillst. Aber da liegst du falsch.«
Jetzt war die Ablehnung in seiner Stimme eindeutig, Merette hatte einen Punkt angesprochen, von dem er nichts hören wollte.
»Nur noch mal rein aus Neugier«, fragte sie trotzdem, »so was wie ein Fremdverschulden ist mit Sicherheit ebenfalls auszuschließen?«
Als er nicht antwortete, zuckte Merette mit den Schultern, als wäre der Gedanke ohnehin bedeutungslos, fügte dann aber noch an: »Der Zeitungsartikel schien darauf anzuspielen, dass das Ganze doch irgendwie merkwürdig wäre, weil das Mädchen sich hier schließlich auskannte und sicher nicht zum ersten Mal in den Felsen am Ufer gespielt hat.«
Jetzt holte er doch wieder den Tabak hervor. Als er sich eine neue Zigarette drehte, sah Merette, dass seine Fingernägel abgekaut waren.
»Außerdem hieß es, das Mädchen hätte gut schwimmen können«, hakte Merette nach.
»Vor ein paar Jahren hatten wir hier mal eine blöde Geschichte mit ein paar Kindern, die einen Jungen, der ebenfalls gut schwimmen konnte, ins Wasser gestoßen und ihn dann nicht zurück ans Ufer gelassen haben.«
»Und?«
»Zum Glück sind sie von einem Angler beobachtet worden,der sich eingemischt hat. Sonst wäre es wahrscheinlich schiefgegangen. Der Junge war übrigens … ausländisch. Wir hatten hier damals noch ein Asylantenheim.«
»Soll das jetzt eine Erklärung sein?«
Merette fand selber, dass ihre Stimme unangenehm scharf klang. Aber sie meinte es auch so.
Diesmal zuckte der Pastor mit den Schultern. Allerdings schien er sich plötzlich wieder auf sicherem Boden zu befinden, fast so als wäre seine Geschichte nur ein Ablenkungsmanöver gewesen.
»Eine Erklärung, ja.« Er nickte. »Keine Rechtfertigung.«
»Also ist doch nicht alles so intakt hier?«
»Das kommt ganz auf den Blickwinkel an. Ich würde sagen, es hat weniger etwas mit Telavåg zu tun als vielmehr mit der Gesamtstimmung im Land. Weißt du eigentlich, dass wir inzwischen fast fünf Millionen Einwohner haben? Vor ein paar Jahren waren es noch dreieinhalb, aber mit den ganzen Neu-Norwegern, die von überall her ins Land kommen … Vergiss es«, er winkte hastig ab, »zumindest hier in Telavåg haben wir ja auch im Moment gar keine Fremden. Und das Mädchen ist einfach ertrunken, vielleicht ist sie mit dem Kopf auf einen Stein geschlagen, als sie ausgerutscht ist, und war schon bewusstlos, bevor sie ins Wasser fiel. Die Leiche war in keinem Zustand, um das im Nachhinein noch definitiv klären zu können. Die Brandung ist gemein hier, und die Felsen …« Er ließ den Satz offen, setzte dann aber dafür hinzu: »Im Übrigen darfst du mir glauben, dass ein Kind zu
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