Schwesterlein muss sterben
beerdigen mit zum Schlimmsten gehört, was mein Beruf für mich bereithält.«
Merette wurde nicht schlau aus dem Pastor. Hatte er ihr nun irgendeinen versteckten Hinweis geben wollen, oderwar er genervt von ihr und wollte wieder in Ruhe gelassen werden?
»Eine allerletzte Frage noch«, sagte sie. »Ich komme nur drauf, weil du eben diese Geschichte erzählt hast. Es könnte also auch durchaus noch jemand beteiligt gewesen sein, der das Mädchen ins Wasser gestoßen und dann nicht mehr rausgelassen hat, bis sie vor Erschöpfung …?«
»Wer sollte das gewesen sein? Und vor allem, warum?«
»Das frage ich dich. Vielleicht war es ja auch niemand aus Telavåg, sondern irgendjemand, der gar nicht hierhergehört, aber der das Mädchen trotzdem kannte. Oder vielleicht auch nur zufällig hier war, jemand aus einem der Sommerhäuser, zum Beispiel. Hat die Polizei das untersucht?«
»Du stellst viele Fragen, die ich nicht beantworten kann.«
Er warf ihr einen Blick zu, der deutlich zeigte, dass er jetzt wieder auf der Hut war. Und er reagierte mit einer Skepsis, die schon aggressiv wirkte. »Mit deiner Studie hat das wohl kaum noch etwas zu tun, oder? Aber glaub mir, hier kennt jeder jeden, ein Fremder hätte gar keine Chance, mal eben einen Mord zu begehen und damit davonzukommen, ohne dass jemand etwas bemerken würde.« Er lachte kurz auf. »Die Felsen haben Augen und Ohren hier, so ist das. Und so war das schon immer, und so wird das auch immer bleiben.«
»Bis in alle Ewigkeit, amen«, rutschte es Merette unwillkürlich heraus.
Sie verzichtete darauf, anzumerken, dass sie selber gerade eine gute Stunde in den Felsen unterwegs gewesen war, ohne jemanden getroffen zu haben.
Sie ging, ohne ihm die Hand zum Abschied zu geben,und spürte seinen Blick in ihrem Rücken, bis sie um die Kirche herum war.
Sie wollte gerade in den Volvo steigen, als ein Moped die Dorfstraße hinaufgeknattert kam. Merette blieb irritiert stehen, als das Moped einen gefährlichen Schlenker machte und dann auf dem Parkplatz wendete, um mit aufgerissenem Gashebel wieder zurück ins Dorf zu fahren. Sie hatte das deutliche Gefühl, dass das Manöver etwas mit ihr zu tun gehabt hatte. Aber sie konnte noch nicht mal sagen, ob der Fahrer unter dem Helm jünger oder älter gewesen war. Als sie zwei Minuten später durch Telavåg fuhr, war von dem Moped nichts mehr zu sehen.
JULIA
Irgendjemand war bei ihr in der Wohnung gewesen. Zuerst war ihr nur aufgefallen, dass der Klodeckel nicht geschlossen war. Genauso wie ihre Mutter fand Julia hochgeklappte Klodeckel völlig unmöglich. Wahrscheinlich weckte es bei beiden unangenehme Erinnerungen an Jan-Ole, der grundsätzlich sowohl Deckel als auch Brille aufgeklappt zurückgelassen hatte.
Auch an ihrem Kühlschrank war jemand gewesen. Die Tüte mit dem Orangensaft war fast leer, obwohl sich Julia sicher war, dass sie sie erst am Morgen geöffnet und nur ein Glas daraus getrunken hatte. Das Glas stand auch nicht mehr auf dem Küchentisch, sondern in der Spüle.
Unwillkürlich musste Julia an die Fragen der sieben Zwerge aus »Schneewittchen« denken, die sie als Kind immer so witzig gefunden hatte: Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen? Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat in meinem Bettchen geschlafen?
Jetzt fand sie die Fragen gar nicht mehr witzig. Im Gegenteil! Vor allem als sie dann in ihr Zimmer ging und den Abdruck auf der Bettdecke sah. Sie hatte die Bettdecke am Morgen flüchtig aufgeschüttelt und wieder übers Bett geworfen, das wusste sie genau. Der Abdruck konnte unmöglich von ihr stammen.
Außerdem waren die Schubladen ihrer Kommode geöffnet worden. In der obersten Schublade hatte sie ihre Unterwäsche. Jetzt war die Schublade nicht ganz geschlossen, weil ein Slip in der Öffnung klemmte. Sie trug immer noch die gleichen Sachen wie gestern, sie war zu faul gewesen, sich etwas Neues rauszusuchen. Sie war also auch nicht an der Kommode gewesen!
Ihr Schreibtisch war okay, jedenfalls soweit Julia es auf den ersten Blick beurteilen konnte. Allerdings war der Stapel CDs so ordentlich aufgeschichtet, wie sie es selber nie machte.
Aber es fehlte nichts. Ihr Laptop war da, ebenso wie das iPad. Auch ihr Modeschmuck in dem mit Schnitzereien verzierten Holzkästchen war vollständig, und die goldene Uhr ihrer Großmutter – das einzig wirklich wertvolle Stück, das sie besaß – hing da, wo sie immer hing, an dem Foto der Großmutter, die als junge Frau mit der kleinen Merette an
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