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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freda Wolff
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zusammenhanglos.
    »Ich bin jedes Mal aufs Neue überrascht, wie schön es hier ist«, sagte er leise, ohne Merette anzusehen. Mit einer weitausholenden Armbewegung wies er auf die Bucht. »Das Wasser. Die Felsen auf der anderen Seite. Bei guter Sicht kann man sogar den Hardanger-Gletscher am Horizont erkennen. Ich liebe diesen Platz, er lässt mich tiefe Demut empfinden.«
    Merette wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Schließlich nickte sie wieder und sagte: »Vielleicht ist es das, was Norwegen ausmacht. Die Natur, die einen überwältigt, und … wie du sagst, man kommt sich irgendwie klein vor, unbedeutend. Aber es ist gut, um nicht die Relation zu verlieren.«
    Er warf ihr einen überraschten Blick zu. »Den Satz würde ich mir gern für meine nächste Predigt ausleihen. Wo kommst du her?«, setzte er dann nach, während er seine Kippe im Gras austrat und bereits wieder den Tabaksbeutel unter der Soutane hervorzog.
    »Wieso?«, fragte Merette. Wenn er jetzt auch noch behauptete, dass irgendwas an ihrer Aussprache ihn stutzig machte, würde sie ernsthaft überlegen müssen, ob die Leute von Telavåg womöglich allesamt besser am sprachwissenschaftlichen Seminar der Uni aufgehoben wären.
    »Jemand, der hier geboren ist, nimmt die Natur als selbstverständlich, ohne darüber nachzudenken. Bei dir schien es mir eben anders zu sein.«
    »Ich komme aus Deutschland.«
    Er hatte seine Zigarette fertig gedreht und ließ sein Zippo aufschnappen. Aber dann schüttelte er unwillig denKopf und verstaute Feuerzeug und Zigarette wieder unter der Soutane.
    »Ich versuche eigentlich, mir das Rauchen abzugewöhnen«, erklärte er. »Aber es fällt schwer. Wie ist es in Deutschland, wird da viel geraucht?«
    »Ich bin seit fünfundzwanzig Jahren hier«, sagte Merette. »Ich weiß nicht, wie es jetzt ist, früher ja. Mein Vater hat Kette geraucht. Ich selber übrigens auch, manchmal jedenfalls. Vor allem, wenn ich nervös bin.«
    Er nickte. »Dein Norwegisch ist gut. Nahezu perfekt.«
    »Fünfundzwanzig Jahre«, wiederholte Merette. »Da sollte es wohl gut sein.«
    Er griff erneut unter die Soutane und hielt ihr den Tabaksbeutel hin.
    »Ich kann nicht drehen«, sagte Merette. »Oder wenn, dann kann man die Dinger nicht rauchen.«
    Er grinste und fischte die fertige Zigarette aus der Hosentasche.
    Der grobe Tabak war so ungewohnt, dass Merette husten musste.
    Der Pastor klopfte ihr auf die Schulter.
    »Ich war mal zu Besuch in Deutschland«, sagte er. »Hamburg.«
    »Da komme ich her.«
    »Großer Hafen. Und ein bisschen mehr Nachtleben als hier. Hat mir gut gefallen.«
    Merette wusste beim besten Willen nicht, was sie mit dem Satz anfangen sollte. Immerhin war er Pastor, das Nachtleben in Hamburg durfte ihn also eigentlich gar nicht interessiert haben. Sie zuckte mit den Schultern, ohne etwas zu sagen.
    »Ich bin eine Weile zur See gefahren«, erklärte er jetzt. »Bevor ich Theologie studiert habe.«
    »Klar«, meinte Merette und kam sich langsam albern vor. Ihr Gespräch wurde zunehmend absurder, und sie hatte das Gefühl, dass es noch endlos so weitergehen würde, wenn sie nicht von sich aus das Thema wechselte.
    »Ich bin hier, weil ich mit irgendjemandem reden wollte, der bei der Beerdigung dabei war. Ich hab ein paar Fragen. Ich bin übrigens Merette«, setzte sie noch hinzu. »Merette Schulman. Ich bin Psychologin in Bergen.«
    Sie hoffte, ihr Name und ihr Beruf würden zumindest ausreichen, um klarzustellen, dass sie nicht nur aus Sensationslust fragte, weil sie zufällig in der Zeitung von dem Unglücksfall gelesen hatte.
    »Eine Psychologin? Das verstehe ich nicht. Aus welchem Grund sollte eine Psychologin …«
    »Ich kann das schlecht mit ein paar Worten erklären, es hat etwas mit einer Studie zu tun, an der ich beteiligt bin und die sich mit Suizid befasst«, log Merette drauflos. »Unter anderem mit Suizid«, schob sie schnell nach, um sich möglichst viele Optionen offenzuhalten.
    Der Pastor zögerte einen Augenblick, bevor er sich ebenfalls vorstellte. »Bjarne, Gemeindepastor in Sund, dazu gehört Telavåg ja, aber das hast du ja schon mitgekriegt.«
    Sein Händedruck war kurz und kräftig.
    Merette sah, wie er gleich darauf spontan wieder nach seinem Tabaksbeutel greifen wollte, dann aber die Arme vor der Brust verschränkte, nur um sie im nächsten Moment hinter den Rücken zu nehmen und nervös vom rechten auf das linke Bein zu wechseln. Merette hatte diese Artvon Reaktion schon öfter erlebt. Insbesondere

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