Schwesterlein muss sterben
grell, dass Julia die Augen zusammenkneifen musste. Nur undeutlich konnte sie die Umrisse einer Person ausmachen, die für einen kurzen Augenblick in der Tür zur Küche stand und dann einen Schritt nach vorne in ihr Zimmer machte.
Mit einem erschrockenen Keuchen kauerte Julia sich hin, um nicht sofort gesehen zu werden. Im nächsten Moment meldete ihr Handy eine SMS. Sie verfluchte sich für die Idee, gerade gestern erst einen neuen Klingelton ausgewählt und die Lautstärke auch noch auf die höchste Stufe eingestellt zu haben – schrill und elektronisch verzerrt hallte die Melodie von »Here comes the Sun« über die Dächer.
Als Julia das Handy ausschalten wollte, rutschte es ihr aus der Hand und polterte klappernd die ersten Stufen hinunter.
Intuitiv wusste sie, dass sie entdeckt worden war. Als sie wieder zum Fenster blickte, war sie schon bereit aufzuspringen, um doch noch über die Feuertreppe zu fliehen. Aber das picklige Gesicht, das jetzt in der Fensteröffnung deutlich zu erkennen war, ließ sie in der Bewegung erstarren. Sie brauchte einen Moment, bis sie die Information verarbeitet hatte.
»Scheiße!«, hörte sie den Fünfzehnjährigen aus der Nachbarswohnung fluchen, bevor er sich umdrehte und siewieder nur noch seinen Schatten sah, der aus dem Zimmer in den Flur rannte.
Ohne zu überlegen, setzte sie ihm nach, beim Sprung von der Fensterbank rutschte sie ab und stieß sich den Knöchel an der Heizung, der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen.
Sie erwischte den Jungen auf dem Treppenabsatz und rammte ihm ihre Schulter in den Rücken, so dass er seitwärts gegen die Wand prallte und dann zu Boden rutschte. Seine Augen flackerten, er wimmerte irgendetwas, was sie nicht verstand.
Julia packte ihn hart und zerrte ihn wieder auf die Füße, dann verdrehte sie ihm den Arm und stieß ihn vor sich her die Stufen hinauf zurück in ihre Wohnung. Sie schlug die Tür hinter sich zu und verpasste ihm einen weiteren Stoß, der ihn über den Flur taumeln ließ.
»In die Küche«, keuchte sie. »Setz dich hin.«
Er gehorchte, immer noch ohne ein Wort zu sagen.
Julia versuchte, ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen, bevor sie sich einen Stuhl heranzog und sich ihm gegenübersetzte.
Als sie ihn anblickte, schluckte er so heftig, dass sein Adamsapfel hüpfte.
»Du Scheißtyp«, sagte Julia leise. »Du blöder, kleiner Wichser …«
Sie war plötzlich irritiert von ihrer eigenen Aggressivität eben im Treppenhaus, sie wusste, dass nicht viel gefehlt hatte, und sie hätte ihn die Stufen hinuntergestoßen.
»Und jetzt?«, kam es weinerlich von dem Jungen.
»Wie? Was meinst du?«
»Du hast mir wehgetan.«
»Ach, tatsächlich?«
Der Junge nickte und griff sich an die Schulter. »Ich hab doch gar nichts weiter gemacht, ich wollte nur …«
»Nein, du warst nur in meiner Wohnung, mehr nicht! Und du warst heute Morgen schon mal hier und hast in meinen Sachen rumgeschnüffelt.«
»Mann, das war doch nur …«
»Ja?«
»Ich find dich gut, das ist alles. Also echt cool, meine ich. Ich wollte nur ein bisschen mehr über dich rauskriegen. Gucken, wie du so wohnst. Ist doch kein Verbrechen, oder? Ich steh auf dich.«
Er blickte sie trotzig an.
Das ist echt frech, dachte Julia. Er tut so, als hätte er mir gerade auch noch ein Kompliment gemacht.
»Jetzt hör mir mal gut zu«, setzte sie an, schüttelte dann aber unwillig den Kopf und stand auf, um die Espressokanne vom Regal zu nehmen.
»Hast du irgendwo eine Kippe?«, fragte der Junge. »Ich würde gerne eine rauchen.«
»Nein«, blaffte Julia zurück.
»Dann eben nicht. Schade. Ich dachte, du rauchst.«
Sie drehte die Kanne auf und füllte sie mit Wasser. Als sie das Kaffeepulver einfüllte, zitterten ihre Hände immer noch.
Ohne sich umzudrehen, fragte sie: »Woher hast du meinen Schlüssel?«
Er gab keine Antwort.
»He, ich hab dich was gefragt!«
»Können wir einen Deal machen?«
»Was?« Julia setzte die Kanne hart auf den Herd undfuhr herum. »Du tickst doch nicht mehr richtig! Was für einen Deal?«
Der Junge zuckte mit den Schultern, aber seine Augen wirkten plötzlich wieder wässrig, als würde er gleich zu heulen anfangen.
»Du sagst meiner Mutter nichts davon, dass ich … hier war und so, okay? Dafür erzähle ich dir auch, wieso ich deinen Schlüssel habe.«
Julia trat ganz dicht an ihn heran. Sie griff nach seinem Kinn und drehte seinen Kopf zu sich.
»Nur damit wir uns richtig verstehen, du gibst mir jetzt als Erstes
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