Schwesterlein muss sterben
hatte er auch das Schloss nicht geknackt.
Morgens war er dann mit hochgezogener Kapuze zum nächsten Bauernhof geschlichen, um die Zeitung aus dem Briefkasten an der Einfahrt zu klauen. Obwohl er genau wusste, dass es zu früh war für die Schlagzeile mit der Meldung, dass sie die kleine Schlampe gefunden hatten und jetzt auf der Suche nach ihm waren.
In Hundvåko hatte er es riskiert, sich im Diner neben der Tankstelle einen Kaffee und eine Fischfrikadelle mit Pommes zu bestellen – nur um die nächsten zwei Stunden vor dem Fernseher über der Theke ausharren zu können, ohne besonders aufzufallen. Die Pommes waren matschig und die Frikadelle schmeckte nach allem Möglichen, nur nicht nach Fisch, aber selbst als er die Bedienung bat, auf den lokalen Sender für die Küste umzuschalten, flimmerte weder sein Fahndungsfoto über den Bildschirm, noch gab es irgendeine Nachricht über die glückliche Rettung eines Entführungsopfers auf Sotra. Ein Mann in der Nähe von Stavanger hatte den ständig kläffenden Dackel seines Nachbarn erschossen, im Hardangerfjord war ein Autohändler aus Oslo während einer Party betrunken vom Boot gefallen und bisher noch nicht gefunden worden, in Indre Arna hatte die Polizei eine Bande von jugendlichen Autodieben festgesetzt, die ihre Langeweile mit alkoholisierten Spritztouren in geklauten Luxusgeländewagen zu bekämpfen versuchten. Sonst nichts.
Er hatte es gerade noch rechtzeitig zur Toilette des Diners geschafft, bevor die Frikadelle wieder hochkam und er für einen Moment gekrümmt vor der Kloschüssel hocken blieb, bis sich sein Magen beruhigt hatte.
Er konnte sich immer noch nicht erklären, was die Psycho-Schlampe ausgerechnet in Telavåg zu suchen gehabt hatte, aber er kam immer mehr zu der Überzeugung, dass es vielleicht doch nichts als ein dummer Zufall gewesen war. Es war Sonntag gewesen, vielleicht hatte sie nur einen Ausflug gemacht, Sotra war ein beliebtes Wochenendziel, gerade für die Einwohner von Bergen. Vielleicht stand sie auch auf alteDorfkirchen, es gab solche Leute, und er hatte die Schlampe auf dem Parkplatz vor der Kirche gesehen. Es war durchaus möglich, dass sie ihre Freizeit damit verbrachte, die Gegend abzuklappern, nur um nicht alleine zu Hause sitzen zu müssen. Er hatte sie allerdings anders eingeschätzt und eher erwartet, dass sie in ihrem Arbeitszimmer mit der Kippe in der Hand und der Kaffeetasse neben sich darüber brütete, wie sie mit seinem Fall umgehen sollte …
Der nächste Gedanke ließ ihn scharf Luft holen. Konnte es sein, dass sie noch nicht mal mehr an ihn dachte? Dass sie gar nicht nervös war, unruhig, kurz davor durchzudrehen? Sondern tatsächlich jeden Gedanken an ihn einfach verdrängt und sich einen schönen Nachmittag gemacht hatte?
Das würde bedeuten, dass er noch lange nicht genug Druck auf sie ausgeübt hatte, dachte er. Sie nahm ihn nicht ernst! Er war auch nichts Besonderes für sie, sie behandelte ihn wie einen x-beliebigen Fall, sie war sogar in der Lage, ihn sofort wieder zu vergessen, kaum dass er zur Tür raus war. Er merkte, wie seine Stimmung in Wut umschlug. Er konnte jetzt nicht abhauen und den Ball flach halten, bis er sich absolut sicher war, was da eigentlich lief. Nein, im Gegenteil, er musste zurück nach Bergen! Selbst auf das Risiko hin, dass vielleicht bereits die Polizei auf ihn wartete, um ihn hochzunehmen. Aber daran glaubte er ohnehin nicht mehr wirklich, er war sich jetzt sicher, dass er ohne jeden Grund in Panik geraten war.
Die Psycho-Schlampe hatte keine Ahnung, mehr noch, sie hatte ihm kein Wort geglaubt, er war für sie nur ein Spinner, der es noch nicht mal wert war, dass sie wegen ihm auf ihren Sonntagsausflug verzichtete. Und natürlich hatte sie auch die Polizei nicht eingeschaltet! Warum auch? Es gab keinenAnlass für sie, sie hatte wahrscheinlich noch nicht mal darüber nachgedacht. Und er war ihr voll auf den Leim gegangen. Als er überzeugt davon gewesen war, sie in die Enge getrieben zu haben, war das nichts als nur Einbildung, sein eigenes Wunschdenken. In Wirklichkeit war sie so kalt wie eine Hundeschnauze. So wie sie alle waren.
Aber das würde sich jetzt ändern. Er war noch lange nicht am Ende, jetzt sollten sie ihn alle erst richtig kennenlernen.
Auf der Fähre zurück nach Krokeide kaufte er sich ein Hot Dog mit einer Extraportion Röstzwiebeln. Seine vorherige Übelkeit hatte einer Art Heißhunger Platz gemacht, der ihm gut zu seiner fast euphorischen Stimmung zu passen
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