Schwesterlein muss sterben
einfiel, dass das Handy ja noch draußen auf der Feuertreppe lag. Kaum war sie an der Dachkante, kehrte auch das Schwindelgefühl zurück. Sie drehte sich um und tastete sich rückwärts von Stufe zu Stufe, den Blick fest auf die Hauswand vor sich gerichtet. Es war nicht einfach, sich nach dem Handy zu bücken, ohne dabei nach unten zu sehen, aber sie schaffte es. Als sie wieder auf dem Dach stand, war sie schweißüberströmt, ihre Hände zitterten so sehr, dass sie kaum in der Lage war, die versäumte Nachricht auf dem Display aufzurufen. Immerhin funktionierte das Handy noch, und die Nummer kam ihr augenblicklich bekannt vor. Es war die Nummer, die sie vorhin erst noch mal von dem Typen im Tonstudio bekommen hatte und die auch auf dem Zettel stand, den Vincent ihr gerade zurückgegeben hatte – Mikkes Nummer!
Ich muss mit dir reden , hatte er geschrieben. Ruf mich bitte an. Mikke.
Auf dem Display fand sich noch ein zweiter Anruf, der eingegangen sein musste, während sie mit Vincent in der Küche gewesen war. Zwar meldete ihr Handy mal wieder »unbekannter Teilnehmer«, aber die Telefonnummer hatte die Vorwahl von Oslo! Julia drückte die Rückruftaste, ohne auch nur für eine Sekunde zu zögern. Sie war fest überzeugt davon, gleich Maries Stimme zu hören, und stellte fast verwundert fest, dass sie sich darauf freute – ihreWut und Enttäuschung waren wie weggeblasen. Sie wollte ja die Freundschaft gar nicht wirklich beenden, im Gegenteil! Und vor allem wollte sie, dass sich wenigstens irgendwas mal zum Guten wendete, die letzten Tage reichten eigentlich an Katastrophen.
Umso mehr war sie irritiert, als sie eine aufgeregte Frauenstimme hörte, die sie augenblicklich mit einem Wortschwall überfiel und die Julia erst einen Moment später überhaupt zuordnen konnte – sie hatte Maries Mutter am Apparat!
»Julia? Das ist gut, dass du gleich zurückrufst. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass du auch nicht zu erreichen bist. Marie geht nämlich einfach nicht an ihr Handy! Was ist denn los? Ist alles in Ordnung bei euch? Ich meine, Marie ist doch bei dir, oder nicht?«
»W…was?«, stotterte Julia und merkte, wie sich ihr Magen zusammenzog.
»He, entschuldige, ich wollte wirklich nicht aufdringlich sein, aber Maries Vater hatte einen Unfall, es ist nicht so schlimm, aber er ist im Krankenhaus, und weil Marie mir ja auch extra noch deine Telefonnummer aufgeschrieben hat, falls irgendwas sein sollte …«
»Schon klar, kein Problem«, brachte Julia heraus. »Es ist nur … Marie ist also losgefahren? Und sie ist …«
»Ja, natürlich, am Freitag. Sie hat gesagt, sie will dich übers Wochenende besuchen! Aber warum fragst du so komisch? Ist sie nicht bei dir?«
»Nein«, sagte Julia. »Warte mal einen Moment, bitte. Ich bin hier draußen auf dem Dach, ich geh nur eben zurück in mein Zimmer.« Sie schwang sich über das Fensterbrett und hockte sich auf ihr Bett. »Da bin ich wieder. Ich glaube, irgendwasläuft hier gerade echt schief. Erzähl mir bitte noch mal genau, was Marie dir gesagt hat.«
Mit jedem Satz von Maries Mutter spürte Julia, wie ihr schwindliger wurde. Als ob sie immer noch an der Feuertreppe stehen und in den Abgrund blicken würde, der sie in die Tiefe ziehen wollte.
Vom Hafen herüber tutete das Signalhorn des Schnellbootes nach Haugesund. Eine Möwe setzte im Sturzflug zur Landung auf dem Dach an und drehte dann doch wieder kreischend ab, als hätte sie plötzlich eine unbekannte Gefahr gespürt.
X
Als er an der Kirche von Telavåg die Psychologin gesehen hatte, war er tatsächlich für einen Moment in Panik geraten. Er konnte einfach nicht verstehen, wie sie es geschafft haben sollte, sein Versteck aufzuspüren. Denn das war sein erster Gedanke: Sie war nur wegen ihm auf Sotra. Sie hatte die Hütte gefunden. Sie wusste alles.
Er hatte sich noch nicht mal mehr getraut, zurück zum Campingplatz zu fahren, sondern war stattdessen nach Süden geflüchtet, nach Klokkarvik, und von dort mit der Fähre nach Hjellestad, über Fana nach Krokeide und wieder mit der Fähre nach Hufthamar, von Insel zu Insel, immer darauf bedacht, größere Orte und Häfen zu vermeiden – und gleichzeitig in der festen Überzeugung, dass ihn über kurz oder lang ohnehin die Polizei abfangen würde.
Er hatte eine richtige Scheißnacht irgendwo auf der Veranda eines leer stehenden Ferienhauses am Meer verbracht, frierend und hungrig, aber er wollte auf keinen Fall irgendwelche Spuren hinterlassen, deshalb
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