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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freda Wolff
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so.«
    Er überlegte kurz, ob es vielleicht ein Fehler gewesen war, ihr mehr oder weniger die Wahrheit zu sagen. Aber es war egal. Und in Norwegen war es ohnehin selbstverständlich, dass man entweder in die Berge oder ans Meer ging.
    »Ich hab Angst vor dem Meer«, erzählte sie ihm. »Schon als kleines Kind. Ich hab mal gesehen, wie sie eine Leiche aus dem Wasser gezogen haben. Eine Frau, die beim Schwimmen ertrunken war.«
    »So was passiert. Du darfst die Strömungen nicht unterschätzen, sonst …« Er zuckte mit den Schultern.
    »Dann pass lieber gut auf dich auf. Du weißt ja, dass wir hier in der Bibliothek ein Problem haben, weil die Ausleihzahlen immer schlechter werden. Wäre nicht gut, wenn du dann auch nicht mehr kommen könntest.«
    Diesmal war sie es, die ihm zuzwinkerte.
    Er grinste. Das Geplänkel machte ihm Spaß.
    »Sorry«, sagte er. »Aber dann haben wir jetzt echt ein Problem. Ich will nämlich gar nichts ausleihen, mein Rucksack ist ja auch schon voll. Ich will nur kurz mal in euer Zeitungsarchiv.«
    Er schob ihr den Bibliotheksausweis hin, den er in irgendeiner Kneipe hatte mitgehen lassen, als er einem pickligen Studenten aus der Tasche gerutscht war.
    Während sie die Karte durch den Schlitz schob, sagte die Bibliothekarin: »Okay, Trygve, du weißt, wie du ins Archiv kommst? Sonst kannst du mich auch gerne noch mal fragen.«
    »Klar, mach ich.«
    »Gerne«, wiederholte sie. »Du weißt ja, wo du mich findest.«
    »Aber Finger weg von meinem Rucksack! Nicht dass du dich in der Zwischenzeit mit dem Puder absetzt.«
    »Aber ich doch nicht! – He!«, rief sie dann hinter ihm her, als er sich gerade zum Fahrstuhl umdrehen wollte. »Weißt du eigentlich, was Schnee ist?«
    Er blickte sie fragend an.
    »Sag’s mir.«
    »Na, was meinst du? So was Weißes vielleicht, was vom Himmel fällt?«
    »Ja, kann man so sagen.«
    Sie kicherte.
    »Nee, eher was Weißes, was dich direkt in den Himmel hinaufschickt!«
    Im Fahrstuhl überlegte er, ob sie ihn eben gerade angemacht hatte. Er war sich fast sicher, dass sie ihm ohne Zögern auch ihre Handynummer geben würde.
    Aber er hatte Wichtigeres zu tun. Und außerdem war sie mindestens vier oder fünf Jahre zu alt. Vielleicht später mal, dachte er. Es könnte spannend sein, jemanden ins Wasser zu locken, der von vornherein Angst hatte. Nicht so wie die anderen, die immer dachten, ihnen würde nichts passieren, nur weil sie zufällig schwimmen konnten.
    Er merkte, wie ihm allein die Vorstellung schon einen Adrenalinstoß versetzte.
    Aber als er dann die Webadresse der Zeitung aufrief, verdrängte er jeden anderen Gedanken.
    Dass Merette Schulman eine ganze Reihe von Artikeln in psychologischen Fachzeitschriften veröffentlich hatte, wusste er bereits, seit er ihren Namen über Google gesucht hatte. Auch dass sie in Deutschland geboren war und in Hamburg studiert hatte, bevor sie dann nach Norwegen ging. Aber mehr hatte er in der weltweiten Suchmaschine nicht herausfinden können, es schien fast so, als gäbe es keine Informationen über ihr Privatleben, auch ihre Biografie bei Wikipedia beschränkte sich rein auf ihren beruflichen Werdegang.
    Er korrigierte den Suchbegriff zu »Schulman« ohne irgendeinen Vornamen, aber mit der Ortsangabe »Bergen« dahinter. Obwohl er ja bereits wusste, was jetzt kommen würde, spürte er doch fast so etwas wie ein Erfolgserlebnis, als auf demMonitor das Foto und die reißerische Schlagzeile auftauchten, die er mittlerweile schon auswendig kannte: DIESER ABI-STREICH TOPPT ALLES: TOCHTER EINER PSYCHOLOGIN LIEGT ALS LEICHE IM BETT IHRES LEHRERS!
    Es ging um die »Russe Sause«, bei der norwegische Abiturienten in einer Art inoffiziellen Wettbewerbs möglichst viele »Orden« sammelten, die nach festgelegten Regeln vergeben wurden: Wer betrunken den Unterricht störte oder sich in der Fußgängerzone öffentlich blamierte, durfte sich dafür einen runden Button an die Abiturientenmütze heften. Wer einen ganzen Kasten Bier in sechs Stunden austrank, erhielt einen Kronkorken. Für »17 Sexualpartner in 17 Tagen« gab es folgerichtig ein Kondom. Sex auf einem Baum wurde mit einem Plastikzweig belohnt – gewonnen hatte, wer die meisten Orden vorweisen konnte oder eine Mutprobe ablieferte, die neu war. Und da hatte sich eine gewisse Julia Schulman den begehrten ersten Platz erkämpft, indem sie sich in das Haus ihres Klassenlehrers geschlichen und sich nachts als Leiche geschminkt nackt in sein Bett gelegt hatte – wo sie dann

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