Schwesterlein muss sterben
in dem Laden läuft nichts! Entschuldige, aber ist doch so. Mein Bericht war in einem Schnellhefter, den ich mit dem Ordner zusammen an die Sozialpsychiatrie gegeben habe. Wir machen das ja alles noch auf dem alten Weg bei uns, alles schön per Aktenordner, die hin und her geschleppt werden. Und jede Wette, dass der Schnellhefter da immer noch auf irgendeinem Schreibtisch liegt! Wenn er nicht inzwischen schon in der Ablage gelandet ist, wo ihn die nächsten fünf Jahre ohnehin keiner mehr wiederfindet …«
Der Kellner brachte die Suppe und fragte nervös, ob alles in Ordnung ist.
»Natürlich«, sagte Frode, »alles bestens.«
Er schob die Suppe zur Seite, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und schüttelte den Kopf. »Du weißt also gar nichts?«
»Zumindest nichts, was dich dazu gebracht hat, ein Gutachten anzufordern.«
»Gut. Oder vielmehr gar nicht gut. Aber dann eben noch mal ganz von vorne, also, von dem Unglücksfall mit der Halbschwester, wegen dem er aus der Pflegefamilie musste, weißt du?«
Merette nickte nur, ohne etwas zu sagen.
»Aksel kommt also wieder ins Heim. Und ins nächste Heim. Und dann in noch eins. Dann ist er volljährig und fällt durchs Abitur, weil er gar nicht erst zur Prüfung erscheint. Hatte das Retalin abgesetzt, das ihm der Heimarzt schon seit Jahren verschrieben hat, und eine Eigentherapie mit Cannabis versucht. Wahrscheinlich war er zugedröhnt bis oben hin und hat gedacht, die Prüfung ist erst einen Tag später.«
»Das ist auch der letzte Eintrag, den ich in der Akte gefunden habe«, hakte Merette ein. »Dass er durchs Abi gefallen ist, ohne die Geschichte mit dem Dope, davon stand da nichts. Aber dass er eine Ausbildung als Mechaniker angefangen hat.«
»Mechatroniker, um genau zu sein. Hat er aber nur ein halbes Jahr durchgehalten, dann hat der Betrieb ihn wieder vor die Tür gesetzt.«
»Und?«
»Und damit fängt seine Karriere als Kleindealer an, wobeiihn prompt die Bullen hochnehmen, und zwar gleich mehrmals hintereinander. Also Anzeige, Gerichtsverfahren, Sozialarbeit als Strafe, in einer Einrichtung bei Flekke, das ist im Sogne Distrikt …«
»Ich weiß, wo das ist. – Keine Therapie oder …«
Frode schüttelte den Kopf. »Er ist volljährig. Da gibt es nichts, wo man ihn unterbringen kann. Vierzehn Tage Entgiftung in der Suchtabteilung der Uni-Klinik, mit ein paar tobsüchtigen Alkis auf dem Zimmer, die als Ersatzdroge an den Kanistern mit den Reinigungsmitteln schnüffeln und nachts die Bude zerlegen! Und das war’s. Sieh zu, wie du dein Leben wieder in den Griff bekommst, mehr können wir nicht für dich tun.«
»Aber er schafft es nicht?«
»Du wirst lachen, doch, er leistet da oben in Flekke seine Sozialstunden ab und fängt sogar eine neue Ausbildung an. Da gibt es so eine internationale Schule, die auch immer irgendwelche Ausbildungsplätze für solche Fälle wie Aksel hat, frag mich nicht, ich blick da auch nicht ganz durch. Er bewirbt sich jedenfalls und … das rätst du nie!«
Frode zog sich die Suppe heran und aß zwei oder drei Löffel, bevor er mit vollem Mund weiterredete. »Aksel wird Koch! Hält drei Jahre durch, besteht die Prüfung und kommt zurück nach Bergen, um hier in einem Restaurant auf Bryggen anzufangen. Na gut, Restaurant ist vielleicht zu viel gesagt, eher eine Kneipe, ganz hinten am Ende, wo die Hafenfähre ablegt. Ich bin extra da gewesen, um mir das mal anzusehen, alles auf echt Norwegisch getrimmt und möglichst deftig, Elchfleisch mit süßsaurem Kohl, eingelegter Hering, Labskaus. Bis zum Abwinken. Wer’s mag, kann sich da für relativ kleines Geld den Magen vollschlagen.«
»Aber irgendwas muss doch jetzt noch kommen?«
»Kommt ja auch. Er matscht da also sein Labskaus zusammen, und so weit scheint auch alles ganz in Ordnung. Er kommt pünktlich zur Arbeit, macht, was man ihm sagt, und hält sich ansonsten aus allem raus, was irgendwie Schwierigkeiten geben könnte. Allerdings weiß keiner so recht, womit er eigentlich seine Freizeit verbringt, und wenn die anderen mal irgendwo zusammen hingehen, um einen draufzumachen, ist er nicht dabei, sondern behauptet, zu müde zu sein oder schon irgendwas vorzuhaben. Sein Boss mutmaßt übrigens schon länger, dass er schwul ist …«
»Was? Nur weil er keine Lust hat, sich mit den anderen zu betrinken? Was soll das?«
Merette fand die Behauptung so unmöglich, dass sie für einen Moment fast so etwas wie Sympathie für Aksel empfand und sich unwillkürlich auf seine
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