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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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noch darum beten, in eines verwandelt zu werden. Ich hasste diese Phantasie, in der ich noch dazu nicht nur Fohlen, sondern auch Stute war. Obwohl dem weiblichen Tier erhöhte Aggressivität nur attestiert wird, wenn es seinen Nachwuchs schützt, kannte ich eine aggressive fohlenlose Stute. Das Tier hatte es auf mich abgesehen und verfolgte mich, sobald es mich erspäht hatte. Heute ist mir klar, dass dieses Pferd sehr empfindlich war und auf mich reagierte, weil ich ihm mein Gesicht, in Angst erstarrt, frontal zugewandt hatte. Ich wusste nicht, dass Pferde nur erkennen können, was seitlich von ihnen ist. Da sie neugierige Tiere sind, lockt sie das Unerkannte an. Damals hatte ich Angst vor den Hufen und dem Biss. Ich rannte und das Pferd setzte mir nach. Die Zäune boten keinen Schutz. Und Großmutter auch nicht, weil sie nicht verstand, dass das Pferd es auf mich abgesehen hatte. Sie drohte mir, mich in der Küche beim Großvater sitzen zu lassen, um selbst auf das Feld zu gehen. Ich war erpresst, ausgeliefert und wütend auf Großmutter. Ich holte mir eine Rolle dünnen Drahtes aus dem Schuppen und ging auf das Kartoffelfeld am Rande des Dorfes. Keinesfalls wollte ich mit Großvater allein in der Küche zusammentreffen. Lieber ließ ich mir etwas einfallen, um mich zu rächen und die Stute zu beseitigen.
    Ich spannte den Draht zwischen den Pfosten des elektrischen Zaunes über den Weg. Es dauerte keine Minute, bis die Stute meine Witterung aufgenommen hatte. Ich starrte dem Tier förmlich entgegen, wie es seine Mähne schüttelte und den Kopf in den Nacken schleuderte, bevor es loslief, vom Trab in den Galopp. Ich hätte nicht gedacht, dass meine Falle zuschlagen würde. Deshalb nahm ich die Beine in die Hand, jagte davon, bis ich in meinen Gummistiefeln auf dem feuchten Gras ausrutschte und stürzte, als das Pferd die Hufe in der Höhe des dünnen Drahtes hob und im Drall der Bewegung vorwärts strebend schon den Schnitt durch die Haut ins Fleisch und die Sehnen spürte. Das Pferd verhedderte sich in dem Draht und knickte im Sprung ein, krachte sich aufbäumend und wiehernd auf den Boden. Das war’s. Ich war mehr über meine Fähigkeit zur Tat erschrocken als über ihr Gelingen. Das Tier kam nicht mehr auf die Beine. Ich traute mich näher heran, es blähte seine Nüstern und hob den Kopf nach mir. Ich löste den Draht und wickelte ihn auf, dann lief ich nach Hause. Großvater kam aus dem Wirtshaus. Er wirkte nüchtern und gefasst. Er holte sein Gewehr, lud es und ging los.
    Das Pferd tat mir, wie es so am Boden lag, leid. Es hob hilfesuchend den Blick und wandte den Kopf ab, wie um mich endlich von der Seite erfassen zu können. Ich spürte den Drang, das Tier zu streicheln. Mir war unwohl, weil ich plötzlich ahnte, dass die Welt von einem tief innewohnenden Missverständnis geprägt war. Heimlich weinte ich über den Tod des Pferdes, noch mehr aus Schuldgefühl. Obwohl es erst durch seinen Tod möglich war, zu dieser Qualität von Trauer zu geraten.
    Wieso man auf Deutsch darum betete, dem Jesus ein Fohlen zu sein, verstand ich trotzdem nicht. Musste ich etwa zum Fohlen werden, um für den Mord an der Stute von der Schuld freigesprochen zu werden? War Jesus vielleicht ein Fohlen? Gott ein Hengst? Ich kam nicht weiter und leierte das Gebet herunter, bis der Unsinn im Kopf zerstob und in ein Summen umschwang. Ich döste in einer Niemandssprache aus Begriffen, die mir unlogisch erschienen und mich verwirrten. Ich war einsam und litt an Unverstandenheit und Unverstehbarkeit. Ich drückte Mariechen an mich. Wir hätten beide eine richtige Mutter gebraucht, die uns nun aufklären hätte können.
    Der einzige Mann, der mich je im Ernst des Lebens behutsam unterrichtet hat, war Maries Vater. Er hockte sich zu mir auf den Boden, nahm mich in seinen Arm und sagte: „Heute kommt deine Mutter nicht nach Hause. Und sie kommt nie mehr nach Hause.“ Mutter war tot, verstorben, wie es hieß, also wieder verschwunden.
    Ich war enttäuscht, aber nichts anderes gewohnt als ihre Abwesenheit, und blieb daher gefasst, ja eigentlich war ich froh. Der Mann, Maries Vater, war mir angenehm und ich ihm.
    „Wo ist sie denn?“, fragte ich.
    „Im Krankenhaus“, sagte mein Vater.
    „Und dort bleibt sie?“, fragte ich unschuldig, obwohl ich schon kapiert hatte, wieso er Tränen zu unterdrücken versuchte. Sie war an den Folgen der Schwangerschaft gestorben. Man könnte es auch so ausdrücken: Von Marie erledigt.
    Ich legte Marie in

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