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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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zu haben und diesen Nabel, der mich an einen Schnuller erinnerte. Ich kam mir pervers vor.
    Das Gesicht der Mutter hatte keine klare Kontur, Nase, Augen, Mund, alles verschwommen, eine Frau, bereit zum Leben am Herd, ein Allerweltsgesicht mit dunklen Haaren, aber was sie auszeichnete für mich, war der gefüllte Bauch mit dem herausgestülpten Nabel, in dem ich von Anbeginn Marie heranwachsen sah. Ich stürzte mich auf die Leibesfrucht und meine Mutter gab mir eine Ohrfeige. Sie war eben böse und dumm und verstand mich nicht. Der Nabel war mit mir auf Augenhöhe, ich hatte mich kindgerecht in die Zusammenhänge verstrickt. Mutter mochte mich nicht, sie war reserviert, ausgebucht für Marie und ich war nur ein Möbelstück aus der Heimat, das sie sich geholt hatte und jetzt für eine Wiege zur Seite schob.
    Das Baby war bereits geboren. Ich erinnere mich unscharf an die Frage nach dem Verbleib der Mutter, bevor ich den Babykörper in den Arm gelegt bekam. Ich rief ein fröhliches Hallo, wie um das Baby aufzumuntern. Es schlief und schnaufte durch die winzigen Nasenlöcher, und später würde es schnarchen. Das war also ein Baby und keine lebendige Puppe, es wuchs.
    Der Mann, den ich Vater nannte, schluchzte.
    Ich war verwirrt. Ich hatte noch nie einen Mann schluchzen gehört, schreien, kreischen, schlagen, das schon, aber niemals schluchzen.
    Ich versuchte mir einzureden, dass der Mann gar nicht schluchzte, dass er lachte. Aber weswegen denn? Das Baby verbreitete Fröhlichkeit, Lebenslust, allenfalls Rührung. Wenn ein Mann weinte, dann musste etwas Schlimmes passiert sein, eine schwere Krankheit vielleicht? Würde er das Baby damit anstecken? Ich schlich mich an das Kind heran, hob es aus der Wiege und verkroch mich in eine Ecke, wartete ab, bis er sich von seinen Eruptionen beruhigt haben würde. Sollte seine Stimmung umschlagen, war ich gewappnet und bereit. Wenn er das Baby wollte, würde ich es ihm nicht geben. Wenn er mich schlagen würde, dann würde ich zurückschlagen. Wenn ich starb, würde das Kind mit mir sterben. Doch da der Mann weinte und weinte, begann ich seiner Verzweiflung zu vertrauen. Der Tod schlich im Haus herum und er hatte Mutter geholt. Ich wartete auf den Tod. Ich legte mich flach auf den Boden und hörte das Holz knistern. Das Zimmer drehte sich um mich. Das Fenster, die Balkontür, das Waschbecken, der Handtuchhalter, das Doppelbett, in dem wir schlafen würden, meine Schwester und ich. Ich schloss die Augen. Ich blinzelte und die Welt zitterte um mich herum. Ich faltete die Hände und betete murmelnd. Auf Deutsch, um in der neuen Welt mit dem neuen Menschen neu geboren zu werden. Damit der Tod nicht käme. Die Verse kamen mir leicht über die Lippen. Ich betete nach der Schrift. Die Sprache des Glaubens.
    Man hatte beschlossen, mich einzudeutschen, damit ich es einmal besser haben würde. Mutter hatte sich bemüht, mit mir hochdeutsch zu sprechen, obwohl diese Sprache für sie selbst eine Fremdsprache war. Ihr Akzent blieb fremd, die Schriftsprache war stumm, von Anfang an hörte ich nur auf mich, mein Klang machte mich in der deutschen Sprache lebendig. Die Konturen der Worte verflossen im Ohr und mischten sich zu einem mir eigenen Ton. Er bestand aus Missverständnissen und falschen Übersetzungen im Austausch der Sprachen und fand seine Bedeutung aus meinen Erfahrungen. Der völlig vorbehaltlose Umgang mit der deutschen Sprache unterschied mich von Mutter. Ich konnte mich abgrenzen über die Perfektion. Das Sonntagsdeutsch der sogenannten Erwachsenen klang bemüht und holprig. Ich sprach nach der Schrift, meine Stimme war glockenrein, was meinem Deutschlehrer sehr gefiel.
    So betete ich, mit meiner Babyschwester im Arm auf dem Rücken liegend, um die Aufnahme in das Himmelreich, bevor die Schrecken des Todes und des Vaters uns überfallen sollten. Ich betete und überwand die Angst durch die Deklamation sinnloser Verse: „Liebes Jesulein, lass uns dir Fohlen sein!“ Ich stellte mir dazu eine grüne Weide vor, in hügeliger Landschaft mit dahinplätscherndem Bächlein. Das sanftbauschige Grün frischen Birkenlaubs in den Kronen der Haine umrandete eine Koppel. Dort weideten zwei Fohlen, ich und Marie, gefahrlos, im Paradies. Ein dunkelbraunes Fohlen, in goldenes Licht getaucht, und meine Babyschwester ein kleiner Rappe, der noch unsicher auf seinen Beinen dahinstakste, mit seiner Schnauze meinen Bauch stupsend.
    Ich mochte keine Pferde und wollte mich weder in ein Pferd verwandeln

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