Schwestern der Angst - Roman
Verwunderung: „Ja, meine liebe Marie, wo hast du denn deinen Bauch gelassen?“ Dann blickte sie mit großen Augen an sich hinab und suchte ihren Bauch. Marie besaß ein ausgeprägtes Gehör und verstand jedes Wort. Sie starrte auf den herzallersüßesten Bauch, der im blau gestreiften Pyjama steckte. Marie war von Anfang an sehr differenziert in ihrer Wahrnehmung, viel feiner im Verstehen als andere Kinder. Sie begriff sofort, dass es sich um einen Scherz handelte. Sie zerkugelte sich vor Lachen, wenn sie den Bauch herzeigte. Ich nahm das kleine Mädchen auf den Arm und trug es ins Bett, las ihm vor und schärfte meine Aussprache an den Märchen. Es war einmal. Bauch. Buch. Sphären leiblichen und seelischen Wohls.
Im Erdgeschoß des Hauses war der Eissalon untergebracht. Vater hatte in neue Geräte investiert, Rührmaschinen, Häcksler für das frische Obst gekauft. Die Messerchen rotierten wie das Fresswerkzeug eines Spulwurmes. Ich wurde mit der Aufgabe betraut, die silbernen Einsätze nach Gebrauch zu putzen, und ging also auch in der Eisküche im Keller zur Hand. Die Töpfe waren riesig, in einem hatte ich sogar gemeinsam mit Marie Platz. Noch als sie schon laufen konnte, kreiselte sie in dem Topf über den Küchenboden, während ich ein Kühlgerät bediente und Eiscreme fabrizierte. Freilich spielten wir nur mit den badewannengroßen Pfannen, Näpfen, Schüsseln und mannskopfgroßen Rührstäben, wenn wir allein waren. Schon aus hygienischen Gründen hätten wir das nicht gedurft, gar nicht zu denken an die Unfallgefahr. Der Häcksler hätte Marie in Sekundenschnelle geknackt und aufgeraspelt wie das Fleisch der Kokosnuss, hätte ich nicht immer aufgepasst.
Die Auslagenfront im Erdgeschoß war zur Theke umfunktioniert, hinter der Vater stand und das Eis verkaufte. Die Haupteinnahmen machte unser Unternehmen aber mit der Belieferung der Hotellerie im Seengebiet. Die Delikatesse unseres Eissalons war Eis aus frisch gepflückten Früchten der Saison. Die Früchte pflückten ich und Marie. Wie eine Plantagenarbeiterin hatte ich Marie auf den Rücken geschnallt und erntete im Himbeerland die Beeren.
Der Salon hieß „Beatrice“, und Vater war so verlogen, dass er sich vor den alleinreisenden Frauen aus dem Norden als Italiener ausgab. Italiener zu sein war reizvoller als ein banaler Einheimischer. Italien hat Flair und die Männer sind galant. Das richtige Image zieht Kunden an. Ich war nicht begeistert von Vaters Beliebtheit bei weiblicher Klientel, aber ich fand es gesünder, wenn er sich an den erwachsenen Touristinnen statt an mir bediente.
Es gibt niemanden auf der Welt, der Marie so in- und auswendig kennt wie ich. Sie wollte immer mit mir zusammen sein und war eifersüchtig auf die Welt. Vater hatte Zeit und Freundinnen, ich nie. Marie verscheuchte beides. Sie warf sich auf den Boden und schlug mit der Stirn so lange auf, bis sie blutete, zwang mich, Telefonate und Gespräche zu beenden, Treffen abzubrechen, mich ihrer erbarmend und sie in die Arme nehmend. Sie tat mir leid, denn sie hatte keine richtige Mutter, und ich kannte die bohrende Frage, wie es denn mit einer wäre, aus eigener Erfahrung. Ich besaß nur mein geschwisterliches Gespür und Gehör.
Als ich ins Gymnasium kam, erschien es mir an der Zeit, Marie aus meinem Bett zu verbannen. Marie wehrte sich. Sie erpresste mich. Sie hörte einfach auf zu atmen, wurde blau im Gesicht und kollabierte. Immer wenn ich ihren kleinen Atem nicht mehr hörte, ließ ich sie doch zu mir.
Marie zeigte mir die Zeckenbisse in der Leistengegend, die ich verarzten musste. Sie war dankbar. Aber als sie mich aufforderte, das Zeckengift herauszusaugen, wurde mir übel. Freilich, sie war ein Kind und unschuldig, doch ich konnte nicht umhin, Marie einer angeborenen sexuellen Besessenheit zu verdächtigen. Schon im Laufstall hatte sie sich, sobald sie mich erblickt hatte, wie ich von der Schule nach Hause kam, lustvoll an den Gitterstäben hochgezogen und sich daran vergnügt. Sie strampelte mit ihren kleinen dicken Beinchen einen Freudentanz, ich hob sie hoch und küsste sie auf Wange und Stirn. Sie ließ sich mit einer Apfelspalte zu den ersten freien Schritten verführen. Sie beobachtete jeden meiner Handgriffe und lernte Glühbirnen zu reichen, Putzmittel zu schlichten, Handtücher aufzuhängen, Waschbecken zu putzen und Kissen aufzuschütteln, sobald ich ihren Popo tätschelte. Lesen, Schreiben, Addieren und Telefonieren und „Eissalon Beatrice“ in den
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