Schwestern der Angst - Roman
seine Arme und meine um seinen Hals und schluchzte mit, wie er es sich wohl erwartet hatte. In der Umarmung spürte ich Trost und gab Trost. Wir wuchsen in diesem Augenblick zusammen. Mutter tot und Vater traurig. Trotzdem war es schön, mit ihm ganz allein, so dass ich nichts dagegen hatte, an seinem Hals die Stirn anzudrücken und mich zu entspannen, denn er hielt mich bloß umschlungen, ohne mehr zu verlangen. Ich war Waise und er versprach mir, Vater zu sein, mit diesem starken Körper, der sich weich anschmiegte. Ich stimmte zu. Ich flüsterte betend in sein Ohr. „Vater, lass mich dir ein Fohlen sein.“ Ich lehnte mich an ihn und da plumpsten wir um.
Er lag auf dem Rücken und stemmte mich hoch. „Lass mich dir ein Fohlen sein?“, wiederholte er und musste trotz der tragischen Situation lachen. Er wieherte und jauchzte. Die kleine Marie schien angesteckt von der guten Laune und die kleine Mörderin nuckelte zufrieden gurrend an ihrem Schnuller. Nun klärte der Vater das Missverständnis auf. Ich hatte die Worte von meiner Mutter falsch eingelernt, der richtige Vers des Gebetes lautete: „Liebes Jesulein, lass mich dir empfohlen sein.“ Vater wirbelte mich durch die Luft und die Jahre danach sollten die glücklichste Zeit meines Lebens sein.
Die Mutter war aus dem Weg geräumt. Meine Freude darüber irritierte mich, ich behielt sie für mich. Marie war zufrieden, ihr ging die Mutter nicht ab, sie war bestens versorgt, gebadet, genährt. Vater sagte bedeutungsvoll: „Du hast deine Mutter verloren, aber nun hast du eine Schwester bekommen, und nicht nur das, du bist jetzt auch eine.“ In meinem Kopf hörte sich dieses Credo so an: Mit ihr zusammen gehörst du auch zu mir.
Meine Schwester bewunderte ich bald dafür, das richtige Kind meines Vaters zu sein, aus seinem Körper im Körper der Mutter nicht nur entstanden, sondern als Triumphator über sie hervorgegangen zu sein. Sie war stark und hatte schon als Fötus gewonnen. Marie war das Ebenbild des Vaters, während ich dem Konterfei der Mutter glich, das sie mit dem ersten Atemzug zum ewigen Schweigen gebracht hatte. Das flößte Respekt und Dankbarkeit ein.
Marie gurrte auf meinem Arm und bewegte die süßen Lippen, wenn ich über ihrem Gesicht sanfte Worte flüsterte. Meine Hingabe an dieses Kind drückte sich darin aus, dass nicht sie meine Grimassen, sondern ich ihre imitierte. Maries Lallen, ihr Lachen, auch ihr Weinen, waren, wenn Mutter Natur sie quälte und Blähungen anrichtete, die Sprache meines Paradieses. Ich war wichtig, ja notwendig und zum ersten Mal zum Wohle eines schutzbedürftigeren Menschen als meiner selbst gebraucht. Noch dazu lebte ich in Sicherheit, und niemand machte mir meine Position streitig. Mutter war fort und ich an ihre Stelle gerückt.
Marie lag im Kinderwagen und die Räder drehten sich. Glitzernde Speichen teilten die Kreisflächen der Räder und wirbelten einen Stein mit sich wie die Kugel beim Roulette. Der Kinderwagen rollte über den betonierten Weg, auf dem die Mutter wegtransportiert worden war. Ich kümmerte mich um den Kinderwagen und die friedliche Marie. Sie schlief hingegeben, auch als die Erde auf dem Deckel der Kiste aufschlug. Ich weinte, an die mittlerweile auch verstorbenen Großeltern denkend, schaukelte den Kinderwagen meiner Schwester und legte meine Hand zum Trost an ihr Köpfchen, zupfte die Mütze über das Ohr. Jedem steht es frei, abergläubisch zu sein. Mir war es wichtig, Marie von den Klagen fernzuhalten, die die kondolierenden Freundinnen der Mutter lautstark ausstießen. Mein Vater war eine gute Wahl gewesen, denn er konnte meine Gedanken lesen. Er zwinkerte mir zu und gab die Erlaubnis, auf den Spielplatz zu fahren. Marie und ich verbrachten die Trauerfeier unter fröhlichem Kindergekreische. Im Anfang meiner neuen Familie hat die Chemie gestimmt. Marie konnte nichts dafür. Das Baby brauchte mich. Ich war einige Jahre älter als sie. Ich war einsetzbar als Kindermädchen und Vater behielt mich dafür. Er besaß ein Haus.
Als Marie sechzehn Monate alt war, sagte sie zum ersten Mal „Mama“, und zwar ganz von allein, zu mir. Sie hatte früh zu laufen, aber eher spät zu sprechen begonnen. Wenn sie mich suchte, damit ich sie ins Bett brachte, rief sie mich nicht, sie sah mich erwartungsvoll an, als würde sich an meiner Erscheinung gleich die Erfüllung eines Wunsches vollziehen. Ich stellte mich stets ganz überrascht, die süße kleine Marie zu erblicken, und fragte sie mit großer
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