Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
Vom Netzwerk:
Leiste legte.
    Marie konnte viel älter aussehen, als sie war. Vor allem, wenn sie das Seitenlicht von links überfiel, wie in diesem Moment, als es ihr von der Leselampe ins Gesicht knallte. Ich sah nur alt aus, wenn die Sonne scheinte. Maries Ohrringe blinkten. Ich rüttelte sanft an den Fensterläden, dann schlich ich zum nächsten Fenster. Bücher standen auf dem Sims. Die Umschläge zeigten Porträts der beschriebenen Personen. Die Konterfeis genialer Menschen waren auf mich gerichtet. Diese Köpfe erreichten die ganze Welt. Ich hätte gern ein Buch geschrieben mit Maries Konterfei auf dem Umschlag, damit ich sie aufschlagen und verstehen lernen könnte, die Schwester der Angst.
    Ein Schreibtisch stand am Fenster, das Richtung Süden zeigte. Die Sonne musste tagsüber grell auf die Schreibfläche fallen. Kaum dachte ich das, zogen Wolken vor dem Mond vorbei und schob sich der Schatten von rechts nach links gegen die Schreibrichtung über das Blatt. Marie war Rechtshänderin. Wie eine Hexenmeisterin braute ich ihr den Himmel zusammen, um mir das Paradies zu erhalten und sie mit mir in Einklang zu bringen, in sinfoni, wie es auf Griechisch heißt.
    Ich rüttelte auch an anderen Fenstern, ich spähte und die Schwester schlief. Unmerklich wischte ich das pfotige Gefühl auf der Haut meiner Handinnenfläche am Fensterbrett ab. Ich legte die Hände zu einem Trichter und rief sie, doch das Glas war zu dick. Also klopfte ich. Damit sie es hörte, klopfte ich fester. Sie bewegte sich nicht. Vielleicht war sie tot? Das wäre vielleicht auch nicht schlecht, dachte ich, zumindest wäre es eine Lösung gewesen. Paul hätte dann mit Haut und Haaren mir ganz allein gehört. Marie reagierte nicht. Ich fasste in meine Tasche und barg das Skalpell, bevor ich mich ans Einbrechen machte. Von weither trug der Wind wieder Verkehrslärm heran, übertönt von einem Tschilpen über den aufäugenden Lichtern eines träge schleichenden Autos. Ich ging meinem Atem folgend weiter, das heisere Bellen eines ausgesperrten Hundes und das vielatmige Schnauben eines Rudels himmlischer Reiter im Rücken. Was war das denn wieder für ein Rascheln? Was für ein Säuseln? Ich eilte im Zickzack durch den Garten. Woher kam das Knicksen und Knacksen? Die Birke im fahlen Licht wirkte wie ein Gerippe. Papier knisterte. Ich war auf Hauswurfsendungen getreten. Weiden zierten angepriesene Villen in zentral gelegenen Toplagen der Umgebung von Paris.
    Eine Fliege krabbelte auf der Innenseite des Fensters. Vielleicht könnte diese Fliege ihre Eier in Maries Körper legen und an der Entwicklung der Larven könnten Gerichtsmediziner seinen Todeszeitpunkt bestimmen. Ich spürte meine entsetzliche Macht, über ihr Leben und ihren Tod zu bestimmen. Natürlich war ich stolz darauf, so weit gekommen zu sein. Die Entsetzlichkeit, mich als nahenden Tod zu begreifen, ist mir erst heute spürbar. Beziehungen verwirklichen Macht. Ich bin Macht. Marie war zu Höherem erzogen als zum Untergang. Deshalb lasse ich mir, nur weil ich einen Hausfriedensbruch begangen habe, nicht auch eine Geisteskrankheit nachsagen.
    Ich führte das Skalpell in den Türschlitz. Nun würde ich klären, wer ich war. Nämlich eine gute Seele. Die Tür sprang auf. Marie hatte nicht auf Paul gehört. Ich betrat das Vorzimmer und wurde von einer Wäschespinne empfangen. Schnüre und Wäscheleinen lagen zusammengerollt neben dem Gestell. Draußen glitzerte der Stadtfluss, bis das Morgengrau ihn in eine mausgraue Schlange verwandeln würde. Ich bewegte mich leichtfüßig, als könnte es kein Straucheln geben. Ich fühlte mich nicht schuldig, aber mulmig war mir schon. Ich war dabei, jede Distanz zu durchbrechen. Ich war Roberts Mörderin, das stimmte. Meine Schwester aber war mein Besitz. Jedermann weiß, dass das Einfühlsamkeitsgetue eines Menschen genauso wenig wert ist wie sein Ausfühlsamkeitsgetue, wenn es nichts abverlangt. Menschen finden einen im Grunde nett, solange sie Lust haben, einen nett zu finden. Wenn sie nett sind, sind sie nett, aber worin liegt der bleibende Mehrwert?
    Ich atmete still dieselbe Zimmerluft wie meine schlafende Schwester. Maries zartrosa Lippen wirkten verkniffen wie sich einringelnde, einander berührende Raupen. Ich saß einer armen, kleinen, einsamen und auf schillernde Männer fixierten jungen Frau gegenüber. Grau und dennoch gefallsüchtig. Sie hatte mich ausgestochen. Sie hatte einen brillanten Kopf, und dennoch konnte jeder Dahergelaufene ihn ihr so arg

Weitere Kostenlose Bücher