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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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Er trug einen Schnurrbart, es war Paul.
    Ich umkreiste das Grundstück. Nun durfte ich keinen Fehler machen. Ich spazierte nachdenklich auf den Waldrand zu. Eine Frau mit Kinderwagen näherte sich mir. Eine weitere junge Frau löste sich vom Waldrand. Eine dritte Frau tauchte aus dem Wald auf, sie hatte verbundene Handgelenke, wie ich leicht unter den zurückgeschlagenen Ärmeln sehen konnte. Alle drei Frauen schoben Kinderwagen. Ich wollte beiseite treten. Ob ich die Kinder gesehen hätte, fragten sie. Da fiel mir erst auf, dass alle Kinderwagen leer waren. Ich hatte nicht einmal Zigaretten dabei. „Ich habe keine Kinder gesehen“, sagte ich. Doch wie seltsam taub war mir in den Ohren, als hätte ich einen Hörsturz erlitten, und es war mir plötzlich kalt, als mich die Astzipfel einer Trauerweide peitschten. Die Frauen waren verschwunden, sah ich Geister?
    Bevor ich Marie heimsuchte, wartete ich, bis sie allein war. Kein Auto. Kein Passant. Kein Fernsehapparat. Weiche Laternenlichtkegel. Lautloser Niesel. Alles war ruhig, nur ein Plastiksack knisterte. Ein Mann kam mir entgegen, blieb aber auf der anderen Straßenseite, das mondbleiche Gesicht mir ständig zugewandt. Auf gleicher Höhe legte er den Kopf zur Seite, mit dünnem Stimmchen piepste er: „Wissen Sie, wo der Bahnhof ist?“ Ich schüttelte den Kopf. Weit konnte der Bahnhof nicht sein, wir befanden uns in der Rue du Départ.
    Der Regen wurde heftiger. Ich flüchtete unter ein Dach. Es war Zeit, zu Marie zu kommen. Ich hockte mich hin, legte die Arme um die Knie, lauschte und betrachtete die trommelnden Regentropfen auf dem Stein der Terrasse. Ich riss den Kopf hoch. Das Grollen des nahenden Zuges. Der Nacken schmerzte. Ich schloss die Augen, massierte den Nacken. Das Grollen näherte sich. Der Boden vibrierte. Ein Spatz schoss über die Terrasse. Ich legte die Hände auf die Ohren. Der Donner zog über mich und meine Ohren hinweg. Das Geräusch schnitt ins Wohnviertel wie ein auf dem Teller quietschendes Messer.
    Ich würde Marie nun aus dem Dorfcorpus filetieren. Vor dem Haus stand auf einem Schild, das Spielen auf der Straße sei verboten. Ein Dackel bellte in der Nachbarschaft. Er streckte das Maul durch den Zaun in Maries Garten und kläffte. Die Fassaden der Nachbarhäuser waren in Steingrau gehalten. Diese unaufdringliche Farbe gefiel als Grundton lebbarer Häuslichkeit. Die Diskretion schien dieses Wohnviertel auszumachen. Hier knallte nichts durch, nichts drängte sich in den Vordergrund. Hier wurde das Einfamilienhaus nicht zur Haft, nicht versteckt, nicht verklärt, sondern ausgekostet. Hier konnten Kinder gesund aufwachsen, man konnte gut für sie kochen und das Gekochte gemeinsam essen. Man holte das Beste aus sich selbst heraus, und dazu war ein Haus notwendig, das gut geheizt werden konnte, in dem es hell war und die Zimmer hoch genug, damit der Geist sich ausdehnen durfte.
    Eine die Autoreifen beschnuppernde Katze schaute auf und sprintete jäh über die Hecke durch den Garten, über die morsch werdenden Hasenställe des verfallenden Nachbarhauses hinweg, in das verwilderte Paradies am Rand. Ich erfreute mich an der Vitalität dieses Miniaturtigers.
    Auf der anderen Seite des Bahndammes hatten die meisten Häuser Thujenhecken als Diskretionsgewächse. Hydranten waren lackiert. Sonne, Mond und Sterne funkelten auf Furnierholz-Eingangstüren. Keramiknamen und Seilzugvorrichtungen, Kuhglocken stanken nach Messingputzmittel. Ein Chrysler am Straßenrand. Ich bemerkte, dass ausgerechnet rund um den Chrysler Hundescheiße lag. Der Wagen gehörte bestimmt zur marmorierten Villa. Wenn ich „bestimmt“ dachte, was meinte ich damit? Alles, was ich benannte, war von mir bestimmt. Aber was bestimmte denn mich?
    Der Hang des Bahndamms war mit Natursteinen gepflastert, gemauert, befestigt, die Steine stammten aus dem Aushub des Straßenbaus, dem Boden dieser Straße entnommen und als Fundament für den Bahndamm geordnet ins Dorf implantiert. Die grobe Textur des Steins schimmerte rot, löchrig, schuppig, rostig, wirkte an mancher Stelle flaumig wie Fell. Giraffenfellmuster. Grießkörniges Streichelgefühl. Die Fugen waren mit hellem Mörtel geschlossen. Der kehlige Ruf eines Flamingos aus dem Vorgarten eines Häuschens. Der frische Kadaver einer Ratte. Für Fliegen war es noch zu kalt um diese Jahreszeit. Das frische Blut glänzte. Ich freute mich, dass der Zug pfiff. Wie schön dieser Ort gewesen wäre, wäre ich hier aus freiem Willen gewesen.

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