Schwestern der Nacht
gefunden, was ich wissen wollte.« »Dann arbeitest du gerade an einem Fall, in dem es um Blutgruppen geht? Muß ja ganz schön kompliziert sein.«
»Ja«, bestätigte Shinji und raffte seinen gesamten Mut zusammen. »Um die Wahrheit zu sagen, ich arbeite an Ichiro Hondas Verteidigung. Du weißt schon, die >Sobra<-Geschichte.«
Ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich merklich. »Ach so, dann bist du nur aus beruflichen Gründen hier, stimmt's?«
»Offengestanden ja, obwohl es wundervoll ist, dich wiederzusehen. Honda hat uns die Namen von fünf Frauen genannt, an die er sich erinnern konnte, und... dein Name war dabei. Ich hielt es für einen großen Zufall«, erwiderte er traurig.
Abgesehen von ihnen beiden war der Lesesaal leer. Nachdem Shinjis Worte verhallt waren, war er in tiefes Schweigen gefallen, ein Schweigen, das nur durch das entfernte Geschrei von Studenten durchbrochen wurde, die irgendwo Sport trieben.
Diese Stille erinnerte ihn unvermittelt an seine Grundschulzeit: Die Schule war aus und fast jeder nach Hause gegangen. Er hörte entfernte Klänge — eine stockende Etüde aus einem abgelegenen Klassenzimmer.
Und dann hatte er seinem Freund mitten ins Gesicht geschlagen, denn er hatte eine anzügliche Bemerkung über seinen Vater fallen lassen. Shinjis Vater war Minen-Makler gewesen und von daher kaum zu Hause, weshalb die anderen Kinder ihn immer aufzogen, sein Vater sei wohl im Gefängnis. Selbst als Erwachsener glaubte Shinji zu wissen, wie sich Kinder fühlen mußten, deren Väter tatsächlich im Gefängnis saßen.
Er rief sich wieder in die Gegenwart zurück und fuhr fort: »Ja, ein Zufall — einer, an den ich erst gar nicht glauben wollte. Also hab' ich mir den Besuch bei dir bis zuletzt aufgehoben.«
Michiko zögerte einen Moment, bevor sie mit ruhiger Stimme erklärte: »Es stimmt, ich hab' ihn gekannt. Ich brauchte jemand, bei dem ich mich aussprechen konnte, der mir nette Dinge sagte. Und genau das hat er getan, deshalb bin ich auch mit ihm ins Hotel gegangen. Aber nur ein einziges Mal. Das kannst du ruhig auch noch wissen.«-Sie sammelte die Bücher ein, marschierte zur Tür und drehte sich dort noch einmal um.
»Du hältst mich jetzt bestimmt für naiv. Es kommt sogar noch schlimmer, ich bin schwanger geworden.«
Shinji war, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggerissen.
»Michiko! Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
Sie lächelte ihn an. »Ist es aber. Und mein Sohn ist inzwischen neun Monate alt. Er hat gerade angefangen zu laufen.«
Shinji war fassungslos. Michiko hatte Hondas Kind zur Welt gebracht. Davon stand kein Wort in dem Detektivbericht. Er lief ihr nach. Sie blieb stehen und schaute auf den Campus hinaus, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen.
»Kein Wunder, daß du überrascht bist. Meine Mutter paßt auf ihn auf, deshalb kann ich weiter arbeiten.«
»Wolltest du denn nicht, daß Honda das Kind anerkennt?«
»Warum? Es hat überhaupt nichts damit zu tun. Ich beschloß, das Kind allein zu haben«, sagte sie entschieden. »Es gehört also mir, nicht ihm.«
Shinji wurde klar, daß diese Frau Erfahrungen gesammelt hatte, die sich ihm vollkommen entzogen.
»Und du spürst kein bißchen Wut oder Haß auf ihn, weil er so wenig Verantwortungsgefühl zeigt?«
»Wie kann er für etwas Verantwortungsgefühl zeigen, von dessen Existenz er nicht mal weiß?«
Shinji verschlug es einen Augenblick die Sprache, doch dann faßte er sich wieder.
»Wenn ich es gewesen wäre.., wenn ich der Vater deines Kindes wäre, hättest du dann auch geschwiegen?«
Seine Worte schienen sich in Blasen zu verwandeln, als sie aus seinem Mund hervorquollen, so daß die Frage kaum zu hören war. Es klang, als würde er vom Grund eines tiefen Sees sprechen.
»Wenn du es gewesen wärst, wäre ich selbstverständlich zu dir gekommen und hätte dich gefragt, ob du Lust hättest, Vater zu sein.«
Sie lächelte ihn an, machte auf den Hacken kehrt und marschierte aus der Bücherei. Shinji folgte ihr. Sie kamen zum Tor. Shinji wußte, daß weitere Fragen überflüssig waren. Sich zu erkundigen, ob Ichiro Honda ihr mal einen Strick um den Hals gelegt hatte, war ganz offenkundig sinnlos.
Michiko drehte sich um. »Leb wohl«, sagte sie und verschwand.
Shinji sah ihr mit dem dumpfen Gefühl einer kompletten Niederlage nach.
Eins jedenfalls stand fest: Er hatte etwas verloren, und zwar für immer.
5
Shinji stieg das höhlenartige Treppenhaus hinauf; das Echo seiner Schritte war
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