Schwestern der Nacht
aus; ein paar strähnige, schweißverklebte Haare hingen ihr in die Stirn.
Der Hausmeister entpuppte sich als Mann über vierzig mit blassem und aufgedunsenem Gesicht. Anscheinend war er Gelegenheitsschneider, denn um seinen Hals baumelte ein Maßband. Shinji zeigte ihm seine Karte und erkundigte sich nach Ichiro Hondas ehemaliger Wohnung.
»Ach, Sie meinen das Apartment von Herrn Ueda. Es sieht noch genauso aus wie früher.«
»Sie haben es nicht weitervermietet?«
»Na ja, als das alles passiert ist, wußte der Besitzer nicht so recht, was er tun sollte, aber dann bekamen wir einen Brief von Herrn Uedas Familie, in dem stand, sie würden das Apartment gern behalten, bis die Dinge geregelt wären. Also haben wir alles so gelassen, wie es war.«
Shinji registrierte, daß der Hausmeister Honda immer noch >Ueda< nannte. Unter diesem Pseudonym hatte er die Wohnung gemietet. Er erkundigte sich, ob er sie sehen könnte, und der Hausmeister war einverstanden. Er schlüpfte in ein Paar Sandalen und griff nach einem Schlüsselbund.
»Ich hänge den ganzen Tag hinter meiner Nähmaschine, eine kleine Abwechslung kommt mir nur gelegen«, gestand er, als er Shinji die Treppe hinaufführte. Dann blieb er vor einer Tür stehen und öffnete sie; dahinter roch es muffig.
Shinji erblickte eine eiserne Bettstatt, einen wie ein Spind aussehenden Garderobenschrank, einen Holztisch und zwei Stühle. Der Hausmeister öffnete unter einigen Schwierigkeiten das Fenster. »Sollte wohl ab und zu mal lüften«, brummte er.
»Bekam Herr Honda manchmal Besuch?«
»Nicht ein Mal. Ich fand das ziemlich seltsam, aber dann erzählte er mir, daß er Drehbücher schreibt und das Zimmer nur braucht, um in Ruhe arbeiten zu können, und dann hab' ich nicht mehr drüber nachgedacht. Und er war wirklich so ein ruhiger und netter Mensch; ich wünschte, ich hätte nicht gegen ihn ausgesagt. Er hatte nämlich ein Heftpflaster im Gesicht, als er auszog, wissen Sie, aber ich wollte ihn bestimmt nicht... ich hatte ja keine Ahnung.. .« Er verzog den Mund zu einem unsicheren Grinsen. In seinem Gesicht stand die Befürchtung, seine Aussage hätte Honda an den Galgen gebracht.
»An eine Sache erinnere ich mich noch ... na ja, eigentlich war's meine Frau. Sie schwört, daß sie eines Tages eine Frau in Herrn Uedas Wohnung weinen gehört hat, als er nicht da war. Klingt wie 'ne Gespenstergeschichte, finden Sie nicht? Die Polizei hat dann auch nur drüber gelacht.«
»Wann ungefähr soll das gewesen sein?«
»Warten Sie... ich würde sagen, so sechs Monate vor Herrn Uedas Verhaftung.«
Shinji dankte ihm und verließ das Meikei-So.
Auf dem Weg zur U-Bahn ließ er sich die Worte des Hausmeisters noch einmal durch den Kopf gehen. Konnte etwas an dieser Geschichte von der weinenden Frau in Hondas Apartment sein?
Wenn man berücksichtigte, daß der Mann Honda immer wieder >Herr Ueda< genannt hatte, egal wie oft Shinji ihn verbesserte, - war es möglich, daß er von einer fixen Idee besessen war.
Und wenn etwas dran war, warum hatte diese Frau in seiner Wohnung geweint?
Shinji grübelte noch eine Weile darüber nach, doch als er die Hauptstraße erreichte, verdrängte er die Bemerkung wieder aus seinem Kopf. Es konnte schließlich nicht von großer Bedeutung sein, oder?
4
Er stieg an einer Vorortstation aus und trieb vor dem Bahnhof bald ein Taxi auf.
Es war nur noch eine Frau auf seiner Liste übrig; eine Frau, für die er immer noch zärtliche Gefühle hegte, obwohl er sie mehrere Jahre nicht gesehen hatte. Damals hatte er sich von ihr getrennt; jetzt würde er sie wiedersehen.
Er hatte sich nicht nur den Collegeaufenthalt schwer erarbeiten müssen, sondern auch den Weg dorthin . An den Abenden und Wochenenden verdiente er etwas Geld als Nachhilfelehrer; tagsüber arbeitete er halbtags als Lieferant bei einem Kaufhaus oder als Aushilfskraft bei der Post. Vor großen Festen und Anlässen, zu denen man sich Geschenke machte, hatte er besonders viel zu tun und stand unter starker Belastung. Dann irrte er oft stundenlang auf der Suche nach irgendeiner besonders obskuren Adresse in seinen abgelaufenen, staub- oder schneebedeckten Schuhen durch die Straßen, den schweren Sack auf dem Rücken, der durch die zahllosen in das Geschenkpapier des Kaufhauses eingewickelten Päckchen ausgebeult wurde. Diese Jobs ließen ihm — vor allem als er für die Zulassungsprüfung lernen mußte — wenig Zeit, Kurse zu besuchen, weshalb er viel Zeit in der Collegebibliothek
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