Schwestern der Nacht
verbrachte.
Nach und nach hatte er die junge Frau besser kennengelernt, die dort für den Verleih zuständig war; beide hatten sich von Anfang an zueinander hingezogen gefühlt, doch so gern er sie auch ausgeführt hätte, ihm fehlte einfach das nötige Geld. So trafen sie sich in all den Monaten und Jahren nur sieben-, achtmal, höchsten zehnmal außerhalb des Colleges. Und unter diesen wenigen Malen hatte er nur einmal mit ihr geschlafen, schnell und verstohlen in dem zwei mal drei Meter großen Raum, der ihm als Unterkunft diente.
Schließlich wurde er ins College aufgenommen, bekam dadurch aber nur noch mehr zu tun, weil er jetzt nicht nur seinen Lebensunterhalt verdienen, sondern auch noch die Kurse besuchen mußte. Im Lauf der Zeit lebten sie sich auseinander und hörten schließlich ganz auf, sich zu treffen.
Die kurze Bekanntschaft hatte sich in sein Gedächtnis eingegraben — obwohl sie ihm heute manchmal banal erschien, diese flüchtige Affäre zwischen einem Studenten und der Angestellten einer Bücherei. Aber wie oft kommt es schon vor, dachte er jetzt, während sich das Taxi den Hang zum Campus hinauf quälte, daß sich zwei gescheiterte Liebende wiedertreffen? In seiner Brust regte sich leise Vorfreude.
Das Taxi hatte das Tor zum Schulgelände erreicht, auf dem keine Fahrzeuge erlaubt waren. Er zahlte, stieg aus und ging langsam auf den alten Backsteinbau zu; die Straße war von Kirschbäumen gesäumt. Das erste Grün des Sommers überzog den Rasen.
Seine Erinnerungen schweiften zurück zu seiner Studentenzeit. Sommer. . . fürchterliche Hitze; der Rasen vor der Bücherei wuchs so schnell, daß man ihn mehrmals wöchentlich mähen mußte ... eine Reihe hochgewachsener Sonnenblumen; Schweiß, der ihm in Strömen übers Gesicht lief, gleichgültig wie oft er sich über die Stirn wischte; die Bücherei, in der langen Sommerpause wie ausgestorben; das Mädchen, das dort arbeitete und immer weiße Blusen trug... In die vergangenen Studententage vertieft, blieb er eine Weile vor der Bücherei stehen, bis er plötzlich abrupt hineinstürzte, bevor er es sich wieder anders überlegen konnte.
Drinnen war es wie immer — muffig und kühl.
Er ging zur Theke. Michiko Ono schrieb etwas auf einen Stapel kleiner Kärtchen. Sie saß ein wenig krumm da, den Kopf leicht auf die Seite geneigt, was er immer sehr anziehend gefunden hatte — genau wie in seiner Erinnerung. Der frühere kindliche Gesichtsausdruck war allerdings verschwunden. Die Linien und Fältchen um ihre Augen zeigten, daß die Zeit nicht spurlos an ihr vorübergegangen war. Diese kleinen Gräben verrieten den langsamen Tod einer menschlichen Seele.
»Fräulein Ono«, sagte er ruhig und mit leicht belegter Stimme.
Sie unterbrach ihre Schreibarbeit und zog ein Gesicht, als würde sie sich darüber ärgern, beim Arbeiten gestört zu werden. Dann erhellte Wiedererkennen ihre Züge, gefolgt von einem leichten Schock. Sie blinzelte zwei- oder dreimal und stieß dann mit vor Rührung bebender Stimme hervor: »Shinji! Mein Gott, ist das lange her!«
»Ich war gerade in der Gegend, da dachte ich mir: Schau doch mal rein.«
»In einer halben Stunde hab' ich Feierabend — wir schließen um halb sechs.«
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Schön, dann kann ich in der Zwischenzeit vielleicht ein paar Studien treiben. Absolventen dürfen sich doch Bücher ausleihen, oder?«
»Ja, vorausgesetzt, sie nehmen sie nicht mit. Du kannst dich in den Lesesaal setzen.«
»Gut. Habt ihr irgendwas über Blutgruppen?«
Sie forschte mit geübter Hand in ihren Karten und konnte ihm bald darauf zwei Nachschlagewerke nennen.
»Mehr haben wir offenbar nicht zu diesem Thema — es sei denn, du siehst auch in den Lexika nach.«
Shinji bedankte sich und verschwand im Lesesaal. Eigentlich hatte er sich länger mit ihr unterhalten wollen, aber die Bücherei-regeln waren ihm noch bekannt — man schwieg und störte die anderen Besucher nicht. Wie man es in einer juristischen Bücherei erwarten konnte, waren die Wälzer, die sie ihm genannt hatte, gerichtsmedizinische Nachschlagewerke. Er suchte alles heraus, was eventuell von Nutzen sein konnte, schrieb es in sein kleines Notizbuch, klappte die Bücher wieder zu und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Faul vor sich hinrauchend, den Blick auf die schmutzige Zimmerdecke geheftet, wartete er auf Michiko.
Sie erschien fix und fertig zum Gehen. »Haben dir die Bücher weitergeholfen?«
»0 ja, danke. Ich hab' alles
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