Schwestern der Nacht
zwei oder höchstens drei Attacken aufgehört? Ist das nicht reichlich inkonsequent? Warum sollte er alle anderen Frauen verschonen? Bei ihnen hätte er doch dieselben abnormalen Triebe verspüren müssen — und wir wissen, daß dem nicht so war. Lassen Sie mich eine Hypothese aufstellen. Nehmen wir einmal an, der Killer der drei Frauen sei ein gewisser >X<.
Sollten >X< und Honda identisch sein, dann liegt das nahe, daß das Motiv für die drei Morde sexueller Natur ist.
Wenn aber >X< und Honda nicht identisch sind, dann sehen wir uns mit einem völlig neuen Motiv konfrontiert, einem Motiv, das wir nicht in Betracht gezogen haben, solange wir Honda für >X< hielten. Können Sie mir folgen?«
Shinji dachte eine Weile nach., »Ich denke schon«, erklärte er schließlich. »Sie meinen, >X< hat mit voller Absicht versucht, Honda etwas anzuhängen?«
»Ganz genau. Es war eine Falle. Und ich will Ihnen eins sagen: Unser Mörder >X< hat keineswegs versucht, Honda die Schuld in die Schuhe zu schieben, um seine eigene Haut zu retten. Dazu ist alles viel zu perfekt ausgeheckt! Nein, es steckt etwas wesentlich Komplizierteres dahinter.
Die Frauen wurden ermordet, um Ichiro Honda zu belasten.«
Die letzten Worte sprach er langsam und sehr deutlich aus. Nachdem er eine kurze Pause eingelegt hatte, um sie sinken zu lassen, fuhr er fort: »Meiner Meinung nach ist das Motiv von >X< Haß — Haß auf Honda. Im Verlauf meines heutigen Gesprächs mit dem Angeklagten wurde ich mir dessen immer sicherer. Was ich als nächstes brauche, ist eine Liste aller Leute, die einen Grund haben könnten, ihn zu hassen — deshalb will ich auch, daß er sein Tagebuch rekonstruiert.«
Der alte Mann sprach mit wachsender Leidenschaft, die auch auf Shinji übergriff. Es war, als ob er dem Plädoyer eines großen Anwalts vor Gericht lauschen würde. Die Logik seiner Hypothese war überwältigend, aber würde sie einer Überprüfung standhalten? Shinji bezweifelte es; irgendwo war ein zu großer Sprung.
»Ich denke«, spann Hatanaka den Faden weiter, »daß das hieb- und stichfeste, diamantharte, dem Gericht präsentierte Belastungsmaterial von irgend jemand präpariert wurde. Wir sehen das Werk eines durchtriebenen menschlichen Wesens vor uns, keine Reihe von Missgeschicken.«
»Aber wie wollen Sie das Gericht davon überzeugen?«
»Wahrscheinlich gelingt es mir gar nicht. Es sei denn, ich fände gleichwertig stichhaltige Beweise, um das Belastungsmaterial zu entkräften.«
Shinji fragte ihn nicht, wie er das zu bewerkstelligen beabsichtigte. Das Engagement des alten Mannes verschlug ihm die Sprache.
»Ich werde Gebrauch von dieser Detektei machen«, fuhr Hatanaka fort. »Zum Glück bezahlt der Schwiegervater die Rechnung, und der ist ein reicher Mann — wir können so viel ausgeben, wie wir wollen. Ausgehend von meiner Überzeugung, daß das Belastungsmaterial präpariert worden ist, werde ich zuerst herausfinden, wie man zu rh-negativem Blut kommt, wenn man welches braucht.« Er brachte seine ausgegangene Zigarre wieder zum Glimmen. »Ich muß immerzu an die unbestechliche Gerichtsbarkeit der alten Griechen denken. Für sie bestand Gerechtigkeit darin, eine Mittellinie zwischen dem Angeklagten und den Klägern zu ziehen. In unserem Fall hat jemand diese Linie verschoben, und ich werde sie wieder an ihren ursprünglichen Platz zurücksetzen.«
Damit war die Audienz beendet, und Hatanaka erhob sich, um zu gehen. Shinji half der Sekretärin, die Fenster zu schließen. Draußen hatte die Nacht ihr schwarzes Gewand über der Stadt ausgebreitet; wie er so auf die schwarzen Straßen blickte, hatte er plötzlich das Gefühl, der Eifer und die Hingabe eines einzigen alten Mannes könnten — entgegen aller Wahrscheinlichkeit — den Ausgang des Prozesses möglicherweise doch noch entscheiden.
Hinter ihm schlurfte Hatanaka aus der Tür, eine gebeugte Gestalt, die Aktentasche fest in der Hand.
Die Blutbank
I
Eine Woche verstrich, bis Hatanaka Shinji wieder zu sich bestellte.
»Ich habe einen neuen Auftrag für Sie«, sagte er. »Setzen Sie sich und sehen Sie sich das hier mal an. « Er reichte ihm drei zusammengeheftete, mit Schreibmaschine beschriebene Blätter. »Diesen Bericht bekam ich heute von der Detektei. Sie sehen darauf Namen, Adressen und Arbeitsplatzangaben von sechs Leuten sowie einen groben Abriss Ihres Tagesablaufs.«
Shinji besah sich die Unterlagen. »Alles klar«, verkündete er schließlich. »Und was soll ich
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