Schwestern der Nacht
Unschuld überzeugt sind«, grübelte Hatanaka. »Denken Sie, er kann besonders gut mit Frauen umgehen?«
»Genau das ist der Punkt«, sagte Shinji. »Seine Abnormalität — wenn wir schon unbedingt eine attestieren müssen — scheint darin zu bestehen, daß er sich in die Frauen hineinversetzen und ihre Sympathie gewinnen kann. Er hat sie alle benutzt, aber keine von ihnen empfindet das so. Ich kann es nicht erklären — aber so ist es.« Erstaunt stellte er fest, daß die wachsende Vertrautheit mit dem Fall Gefühle für Ichiro Honda in ihm geweckt hatte, von denen er noch gar nichts wußte. Was allerdings nicht hieß, daß er Hondas Benehmen auch nur einen Moment billigte.
Hatanaka schien mit Shinjis Bericht zufrieden zu sein. Er machte ein paar Notizen auf seinem Block. Shinji konnte jedoch nicht erkennen, was es war. Schließlich stand er auf und sagte: »Ich war heute bei ihm, müssen Sie wissen.« Es lag fast so etwas wie Intimität in der Art und Weise, wie er das Wort »ihm« aussprach. »Er ist jetzt seit drei Monaten im Gefängnis und nur noch ein Schatten seiner selbst. Man kann ihn sich unmöglich als attraktiven Mann vorstellen, dem die Frauen zu Füßen liegen. Das Todesurteil hat ihn ganz offensichtlich wie ein Donnerschlag getroffen. Ich habe versucht, ihm wieder ein bißchen Leben einzuhauchen, und riet ihm, sein Ladykiller-Tagebuch zu rekonstruieren, statt in der Zelle vor sich hinzuvegetieren. Er kann es schaffen, wenn er sich Mühe gibt; als Computer-Ingenieur besitzt er ein besseres Gedächtnis als die meisten Leute. Wenn er genug Zeit zur Verfügung hat, sollte er sich an den Großteil erinnern können — ich wette drauf.« Er zog nachdenklich an seiner Zigarre. »Was halten Sie für den entscheidenden Punkt dieses Falls — der, den wir vor dem Berufungsgericht entkräften müssen?«
»Die seltene Blutgruppe des Angeklagten.«
»Ganz meine Meinung. Man fand Blut unter ihren Fingernägeln — zwar nur sehr wenig, aber auf jeden Fall genug. Das überprüft man immer bei Strangulierungsopfern; es gelingt ihnen oft, dem Mörder das Gesicht zu zerkratzen. Nun ja, die erste Analyse wurde etwas flüchtig durchgeführt und das Blut kurzum als AB abgetan. Doch nach Hondas Inhaftierung entdeckte man, daß er eine seltene Blutgruppe hat — AB rh-negativ. Sie machten sich also an die Arbeit und fanden heraus, daß das Blut unter den Nägeln nicht nur AB, sondern zusätzlich rh-negativ war. Ihr Verdacht hatte sich bestätigt — und konnte jeder Anfechtung standhalten. Dieser Nachweis hat ihm quasi die Schlinge um den Hals gelegt.«
»Jawohl«, stimmte Shinji zu, »und dann gibt es noch ein verwandtes Beweisstück: den Spermatypus.«
»Sehr gut. Doch lassen wir jetzt mal die Blutgruppe beiseite — es gibt nämlich noch ein weiteres wichtiges Faktum, das gewaltig gegen den Angeklagten spricht.«
»Das fehlende Alibi«, entgegnete Shinji prompt, als ob er ein Grundschüler wäre, der als Hausaufgabe etwas auswendig gelernt hatte und nun aufsagen mußte. Er genoß den Dialog mit seinem Boss.
»In der Tat, ja. Am 5. November, als der erste Mord begangen wurde, will Honda bei Fusako Aikawa gewesen sein. Und in der Nacht des 19. Dezembers, als Fusako Aikawa ermordet wurde, war er angeblich bei Mitsuko Kosugi, die dummerweise als nächste dran glauben mußte. Daß er statt eines Alibis sich quasi selbst an den Galgen liefert, finde ich außerordentlich interessant. Auf den ersten Blick sieht seine Geschichte wie ein Lügenmärchen aus, nicht wahr? Wenn wir ihm glauben würden, hätte er perfekte Alibis — abgesehen davon, daß die Damen, die sie bestätigen könnten, unglücklicherweise der Reihe nach umgebracht wurden. Absurd, meinen Sie? Es wirft aber auch ein paar interessante Möglichkeiten auf. Wir wollen uns einen Moment mit dem Motiv beschäftigen, einverstanden? Hondas ziemlich fadenscheinige Erklärungen über seine Alibis müssen wir mit der Frage nach dem Motiv verknüpfen. Wissen Sie noch, welches Motiv der Staatsanwalt ihm unterstellte?«
»Ja. Angeblich hat er die Frauen während des Geschlechtsakts erwürgt, um seine abnormen sexuellen Begierden zu befriedigen. Zur Unterstützung zogen sie den langjährigen Arzt der Familie hinzu und ließen ihn unter Eid Hondas Impotenz beim Zusammensein mit seiner Frau bestätigen.«
»Richtig. Das Gericht hielt ihn für einen Triebverbrecher. Ich für meinen Teil bin anderer Meinung. Wenn er wirklich sexuell pervers ist, warum hat er dann nach
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