Schwestern der Nacht
Hand auf der Schulter spürte. Wollte der Kerl sich über ihn lustig machen? Nein, es schien ihm todernst zu sein. Shinji ignorierte ihn, erhob sich und wandte sich wieder Shoko Toda zu.
»Vielen Dank für Ihre Unterstützung. Ich würde Ihnen gern noch eine letzte Frage stellen: Halten Sie Ichiro Honda für einen Perversen und Mörder?«
Sie entfernte die Zigarettenspitze von ihren Lippen.
»Ich bin vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der seine scheinbar absurden Unschuldsbeteuerungen glaubt.« Dann verfiel sie in Schweigen und begann mit verträumtem Blick ihren Gedanken nachzuhängen, als ob irgendeine süße Erinnerung in ihr hochgestiegen wäre.
Hajime Shinji stieg die Stufen wieder hinauf und holte tief Luft. Das da unten war eine andere Welt, seine Bewohner vielleicht Menschen, die sich vor dem Tageslicht fürchteten. In Nishi Ginza nahm er die U-Bahn nach Shinjuku. Mitten im Untergrund überkam ihn plötzlich der starke Drang, in Yotsuya Sanchome auszusteigen. Wenn er sich nicht irrte, hatte Ichiro Honda dort seinen Unterschlupf gehabt.
Seine Gedanken schweiften zurück zu der Gerichtsverhandlung, zu dem gnadenlosen Kreuzverhör, in welches der Staatsanwalt Honda wegen seiner Geheimwohnung genommen hatte. Der Staatsanwalt bestand darauf, Honda habe sich diese Höhle mit ihrem Kleiderlager zugelegt, um seine Morde besser ausführen zu können. Er steigerte sich furchtbar in seine Anklage hinein; seine Sprache wurde immer elegischer und antiquierter, während er sich über die teuflische Gerissenheit des Verbrechers ausließ. Bei dieser Erinnerung mußte Shinji lächeln. Für ihn waren Ichiro Hondas Motive kristallklar. Er übte das trockene Metier eines Ingenieurs aus; war es nicht nur natürlich, daß er seinem ernsten Beruf mal entgehen wollte und in bequemen Klamotten durch die Stadt spazierte?
Honda hatte während des Verhöres auf das Bombardement von Fragen und Anklagen nichts als Phrasen wie >um mich auszuruhen< vor sich hingemurmelt. Er verhielt sich wie jemand, der es aufgegeben hat, sein Handeln zu rechtfertigen; das hinterließ beim Richter natürlich einen ungünstigen Eindruck, obwohl der Verteidiger beteuerte, Honda hätte sich wirklich in völlig unschuldiger Absicht kostümiert und sich nur ein etwas freieres Lebensgefühl verschaffen wollen. Wie konnte man beweisen, daß die Freiheit, die Honda suchte, nur darin bestand, Frauen zu verführen, und daß das allein schließlich nichts Unrechtes war? Shinji kauerte auf dem äußersten Rand seines Sitzplatzes und befand, daß nicht so sehr das Gesetz, sondern vielmehr die Moral für das harte Urteil verantwortlich war. Und wenn die Staatsanwaltschaft die Moral auf ihrer Seite hatte, welche Chance hatte dann noch die Verteidigung?
So kam es, daß die Zuhörer ungläubig reagiert oder heimlich geschmunzelt hatten, als der Verteidiger über Hondas Tagebuch und dessen Verschwinden sowie über die hinterhältige Falle in seinem Garderobenschrank gesprochen hatte.
Shinji folgte seinem Instinkt, stieg in Yotsuya Sanchome aus und fand in einem kleinen Tabakladen einen Münzfernsprecher. Er rief in der Kanzlei Wada an und erkundigte sich nach der Adresse von Hondas Versteck. Der Rechtsanwaltsgehilfe am anderen Ende der Leitung ließ ihn einige Zeit warten; die Kanzlei Wada hatte offensichtlich, nachdem sie Honda nicht mehr exklusiv vertrat, auch das Interesse an dem Fall verloren.
Während er wartete, hämmerte die Sonne auf Shinjis Kopf. Schließlich war der Gehilfe wieder am Apparat und gab ihm widerwillig Instruktionen durch, wie er zum Meikei-So kam. Es schien ganz leicht zu sein.
»Am Sushi-Laden links, sagen Sie, und dann noch etwa fünfzehn Meter? Ist das alles?« Shinji kritzelte fieberhaft auf den Notizblock neben dem Telefon. Ein zehnminütiger Fußmarsch, mehr anscheinend nicht. Er machte sich auf den Weg. Es war ein sehr ruhiges Viertel. Er kam an einem Fernsprechamt und einem Holzlager vorbei; typisch für die Gegend um das Meikei-So herum.
Das Gebäude selbst war zweistöckig und mit farblosem Mörtel verputzt — trist genug. An der Seite führte eine Treppe zu dem außen gelegenen Gang. Hier konnte man ungesehen ein und aus gehen. Ein ideales Versteck, dachte Shinji.
Auf einem kleinen Schild an der Ecktür im Erdgeschoß stand >Hausmeister<. Shinji klopfte und stand kurz darauf einer Frau gegenüber, die ihn ansah, sich umdrehte und »Schatz!« rief, bevor sie wieder im Innern verschwand. Sie sah abgehärmt und verbraucht
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