Schwestern der Nacht
Musashi-Ebene. Im Herzen des Campus erhebt sich ein prächtiges dreistöckiges Gebäude, das Studienzentrum, um das sich Wohnheime für die Studenten und Lehrer gruppieren, die allesamt auf dem Universitätsgelände wohnen. Die Studenten stammen aus allen Teilen Asiens und sogar aus Afrika, weshalb man auf dem Campus nicht viel Japanisch zu hören bekommt. Englisch ist die gebräuchlichste Sprache an der A.M.U.
An Sonn- und Feiertagen dürfen sich die Studenten in den umliegenden Vergnügungszentren amüsieren, ansonsten konzentrieren sie sich in dieser klösterlichen Atmosphäre voll und ganz auf das Studium.
Um 13 Uhr am 10. Oktober hielt ein Bus an der Haltestelle vor der Universität und setzte einen einzigen weiblichen Fahrgast ab. Zur Zeit waren Semesterferien. Nachdem sich die Staubwolke, die der Bus aufgewirbelt hatte, verzogen hatte, nahm die Frau das Taschentuch aus ihrem Gesicht. Sie steckte es in ihre Handtasche und strich den Kragen ihres Kimonos glatt, bevor sie sich auf den Weg machte.
Sie ging etwa fünf Minuten die schmale Landstraße entlang, dann hatte sie das Tor und die breite Auffahrt der Universität erreicht. Sie blieb eine Weile stehen und schaute auf das Gelände, schien dann ihre Meinung zu ändern und marschierte denselben Weg zurück, den sie gekommen war. Gleich hinter der Bushaltestelle befand sich ein schäbiger Laden, in dem es Süßigkeiten, Brot, Zigaretten und andere Dinge des täglichen Bedarfs gab.
Außerdem war dort ein öffentlicher Fernsprecher. Eine dünne, wenig ansprechende Staubschicht lag über den Waren; der Laden schien nicht gerade viele Kunden anzulocken.
Die Frau ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. Augenblicklich tauchte eine Alte aus dem rückwärtigen Teil des Ladens auf; ihre Brille saß schief auf der Nase.
»Nach Tokio?« bellte sie. »Ferngespräche muß ich durchstellen.«
Die Frau schüttelte den Kopf und hielt sich das Taschentuch vors Gesicht. Die Alte verschwand wieder im Dunkel, aber ohne sie aus den Augen zu lassen. Die Frau wollte offenbar in der Universität anrufen.
Sie wählte die Nummer der Zentrale. Vor sich hatte sie eine Liste der Angehörigen des Lehrkörpers liegen.
»Professor Matsuyama, bitte. Er ist doch für den Chor zuständig?«
»Ja. Augenblick bitte, ich verbinde.«
Saburo Matsuyama, Professor für Geschichte der Kirchenmusik, war gerade in der Bibliothek mit klassischen Partituren beschäftigt, als ihn der Anruf erreichte. Er war eine anerkannte Kapazität auf seinem Gebiet, aber inzwischen über siebzig, und das Unterrichten fiel ihm schwer. Zudem war er mittlerweile ziemlich taub, deshalb bestanden seine Hauptvergnügen im Orgelspielen und dem Dirigieren des Chors.
»Hallo«, sagte er in die Sprechmuschel. »Hier Matsuyama. Wer spricht, bitte?«
»Professor Saburo Matsuyama?«
»Ja ja, wer ist denn da?«
»Ich bin von einem Ehevermittlungsinstitut, Professor. Ich möchte einige Erkundigungen über einen Ihrer ehemaligen Schüler einholen, Herrn Ichiro Honda. Soviel ich weiß, hat er den Chor geleitet.«
»Sprechen Sie lauter, ich verstehe kein Wort.« Obwohl ihre Stimme freundlich klang, schien die Frau durch die Nase zu sprechen. Sie wiederholte ihr Anliegen zweimal mit jeweils erhobener Stimme, bis er sie endlich verstand.
»Aha, ich begreife. Ja, fragen Sie nur, was Sie wissen möchten. «
Anhand der Fragen, die die Frau ihm stellte, begann er sich über Ichiro Hondas Universitätslaufbahn auszulassen. Glücklicherweise war Honda ein ausgezeichneter Schüler gewesen, so daß sich der Professor gut an ihn erinnerte. Außerdem fielen ihm Lobreden nicht schwer, was bei einer solchen Gelegenheit von großem Vorteil war. Er schwärmte voller Enthusiasmus von dem Fleiß, dem musikalischen Talent, ja sogar dem guten Aussehen seines ehemaligen Schülers. Gab es sonst noch was zu berichten?
»Ach ja, da fällt mir noch etwas ein, das zeigt, was für ein feiner junger Mann er ist. Honda hat eine sehr seltene Blutgruppe — ich glaube, sie kommt nur einmal unter mehreren Tausend vor. Als Student hat er Blut gespendet und dadurch einem Baby das Leben gerettet. Das ging damals wie ein Lauffeuer durch die Presse. Woher wir seine Blutgruppe kannten? Sehen Sie, meine Dame, wir haben hier ein amerikanisches Institut für Biologie, auf das wir sehr stolz sind. Wir notieren die Blutgruppe jedes Studenten.«
»Welche Blutgruppe war es denn? Können Sie mir das sagen?« »Das weiß ich leider nicht. Wenn Sie aber im Institut
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