Schwestern des Mondes 02 - Die Katze-09.06.13
Seher?«
»Nein, aber ich kann Energien lesen. Das ist auch der Grund dafür, dass Ihre Majestät mich als ihren Boten ausgewählt hat. Ich kann hinter die Worte blicken und ihr ein genaues Bild dessen vermitteln, was tatsächlich wahr ist.« Er griff nach meiner Hand. »Darf ich?«
Ich streckte ihm die Hand hin, und er nahm sie sacht in seine und schloss dann die Augen. Seine Berührung war so leicht wie eine Feder und kitzelte meine Haut. Ich fragte mich, ob er eine Frau hatte, eine Familie, ein Zuhause. Bei uns gaben jene, die für Hof und Krone so bedeutende Posten ausfüllten, jegliche Hoffnung auf ein Privatleben und persönliche Erfüllung auf und verpflichteten sich, bis zum Tod zu dienen und zu schützen. Was brachte jemanden dazu, einen solchen Pfad einzuschlagen? Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals meine Familie aufzugeben, aber manchmal – das hatten wir selbst auf die harte Tour gelernt – war das Schicksal eine grausame Herrin.
Während Trenyth meine Energie erkundete, entstand ein Band zwischen uns, und plötzlich standen mir Bilder vor Augen, die mir das Geheimnis seines tiefsten Herzens enthüllten. Er liebte die Königin. Er liebte sie weit über bloßes Begehren hinaus, liebte sie ohne jede Hoffnung, jemals mit ihr zusammen sein zu können. Er verehrte sie wie eine Göttin, sie war sein Mond, seine Sterne.
Überwältigt von dieser Woge von Emotionen versuchte ich mich still zurückzuziehen, damit er nicht merkte, dass ich es fertiggebracht hatte, in seine intimsten Gedanken hineinzustolpern, doch plötzlich riss er die Augen auf. Er schwieg kurz, dann sagte er nur: »Du besitzt hervorragende empathische Anlagen. Wusstest du, dass du in dir zwei Gesichter vereinst, beide mit deiner Seele verbunden, beide ein Teil von dir, aber weder menschlich noch Fee? Du bist ein Zwilling, nicht wahr?«
»Was? Wie meint Ihr das?« Ich hatte keine Ahnung, wovon er da sprach.
Er lehnte sich zurück und ließ meine Hand los. »Delilah, bei Werwesen sind Zwillinge sehr selten. Und noch seltener bringen Feen Zwillinge hervor, die beide Wereigenschaften entwickeln, aber gelegentlich eben doch. Vor allem bei einem gemischten Abstammungshintergrund. Du hattest eine Zwillingsschwester, die gestorben ist, nicht? Und sie war ein Werwesen wie du, richtig?«
Häh? Ich blinzelte, nun vollends verwirrt. Mutter hätte es mir doch gewiss gesagt, wenn ich eine Zwillingsschwester gehabt hätte. »Soweit ich weiß, nein. Wie kommt Ihr darauf?«
Er blickte überrascht drein. »Weil du zwei Schatten in dir trägst – einer verbirgt sich im Dunkeln, der andere ist längst ans Licht gekommen. Werschatten. Deshalb ging ich davon aus, dass deine Zwillingsschwester verstorben ist. Wenn das geschieht, erbt oft der überlebende Zwilling die zweite Tiergestalt. Letztlich wird der Überlebende dadurch zum Doppelwerwesen – er kann zwei verschiedene Tiergestalten annehmen.«
Ich sprang auf, denn es drehte mir den Magen um. Ich zog mich in die Küche zurück und goss mir ein Glas Wasser ein. Während ich am Hahn stand und trübsinnig aus dem Fenster starrte, trat Chase zu mir und legte sacht die Hand in meinen Rücken.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht. Was Trenyth gerade gesagt hat... Chase, in meinem Traum war ich in Tiergestalt, aber ich war kein Tigerkätzchen, und jedes Mal, wenn ich versuche, mich zu erinnern, was ich war, ist alles wie weggewischt. Könnte er recht haben? Ist es möglich, dass eine neue Tiergestalt in meinem Inneren versucht, sich nach draußen zu arbeiten? Und was war das für ein Krampfanfall? Was ist da passiert? So etwas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht.«
»Wann hat das alles angefangen?«, fragte er.
Ich überlegte. »Nachdem der Herbstkönig mich gezeichnet hatte. Irgendetwas hat sich verändert, und ich komme nicht dahinter, was genau.« Ich wandte mich ihm zu und sah ihn an. »Ich habe Angst«, gestand ich ihm. Eigentlich wollte ich das nicht zugeben, aber ich konnte meine Furcht nicht mehr verdrängen.
Er küsste mich zärtlich auf die Stirn und liebkoste dann meine Lippen mit der Zunge. Dann zog er mich an seine Brust und drückte mich an sich. »Es ist gut. Alles wird gut. Glaubst du, deine Eltern hätten dir eine verstorbene Zwillingsschwester verheimlicht? Menschliche Eltern verschweigen solche Dinge manchmal, aus allen möglichen Gründen.«
Ich versuchte, mich in Mutter hineinzuversetzen, scheiterte aber kläglich. Ich mochte ihr sehr ähnlich sein,
Weitere Kostenlose Bücher