Schwesternkuss - Roman
großes T-Shirt und die guten alten Birkenstock-Schuhe an den Füßen, in denen sie wie eine Ente durch die Gegend watschelte, gehörten zu ihrem Bennie-Rosato-Outfit. Kein Wunder, dass ihre Schwester keinen Liebhaber abbekam.
Bis zum Büroviertel war es nicht weit. Die Gehsteige füllten sich mit Menschen, die, obwohl schon im gesetzten Alter, Rucksäcke auf ihren Rücken geschnallt hatten. Ein klares Anzeichen, dass es Anwälte waren. Außerdem arbeitete diese Berufsgruppe am Wochenende besonders gern.
»Hallo, Bennie«, rief ihr ein Mann zu.
Alice erschrak, setzte aber sofort das breite, unverbindliche Lächeln ihrer Schwester auf. »Wie geht’s?«
»Großartig! Guter Artikel von dir.«
»Ich würde an deiner Stelle kein Wort davon glauben.«
Der Anwalt lachte und ging weiter.
Alice beschleunigte ihr Tempo, und ihr Entengang verwandelte sich in ein schnelles Schreiten. Vor ihr lag ein Meer von Hochhäusern und Geschäften. Obwohl sie noch nie in Bennies neuem Bürogebäude gewesen war, ahnte sie, welches es sein könnte. Die meisten waren modern, hatten Fenster mit Sonnenschutzfolien, nur eines war kleiner, mit einer glatten Kalksteinfassade und Messingverzierungen im Art-Deco-Stil. Der Eingang bestand aus altmodischen Glastüren, deren Türgriffe, ebenfalls aus Messing, in der Sonne schimmerten.
»Big Ben!«, rief eine Stimme hinter ihr. »Sagst du mir nicht guten Tag?«
War Big Ben Bennies Spitzname? Alice war sich unsicher. Sie drehte sich um. Hinter ihr stand ein alter Mann in einer türkisfarbenen Straßenkehreruniform. »Tut mir leid. Ich habe noch keinen Kaffee gehabt.«
»Das merkt man«, antwortete der alte Mann grinsend.
»Pass auf dich auf!«
»Du auch!«
Bisher war alles glatt gelaufen, auch wenn sie sich wie eine aufgeregte Pfadfinderin fühlte, die zum ersten Mal ein feindliches Camp ausspionieren musste. Sie überquerte die Straße und schritt geradewegs auf das kleine Bürogebäude mit der Hausnummer 1717 zu. Ein älterer Wachmann in einer blauen Uniform saß in der Lobby hinter einem Holztisch und las Zeitung.
»Was würden wir ohne Klimaanlage machen?«, fragte er und sah zu Alice auf.
»Das stimmt.« Ihr gelang es zu lächeln. Sie wusste, dass Bennie ehemalige Cops als Security einstellte. Mit diesem alten Knacker war also nicht zu spaßen. Und sie hatte keine Ahnung, wie der Sicherheitscheck hier ablief. Sie wischte sich die Stirn ab. »Mein Gott, ist das heute heiß.«
»Da sollte man nicht arbeiten.«
»Aber wir müssen.« Das Schild am Revers des Wachmannes verriet ihr seinen Namen, Steven Palmieri. Ob er Steven oder Steve gerufen wurde, wusste sie nicht. »Wollen Sie meinen Ausweis sehen, Officer Palmieri?«
»Aber nein. Sie sind doch der Boss hier.«
»Danke.« Alice machte sich auf den Weg.
»Aber Sie müssen sich eintragen.«
Alice blieb stehen. Sie hatte vergessen, wie Bennies Unterschrift aussah. Sie könnte auf ihrem Führerschein nachsehen, aber der war in der Brieftasche, und der Wachmann hielt ihr das schwarze Buch schon unter die Nase.
»Brauchen Sie was zum Schreiben?«, fragte er und gab ihr seinen Kugelschreiber.
16
Mary war zu kurzsichtig, um auf dem Wecker die genaue Uhrzeit abzulesen. Vermutlich war es gegen neun. Denn im Schlafzimmer war es schon sehr hell, der Vorhang bot keinen Schutz mehr gegen die Sonne. Anthony hatte sich an sie angekuschelt. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, sie wollte ihn nicht aufwecken. Heute Nacht hatten sie nicht miteinander geschlafen. Mary wusste warum.
Sie hatte an Mike denken müssen, hatte in Gedanken die Zeit mit ihm bis zu dem schrecklichen Ende noch einmal durchlebt. Wie hatte er ihr doch in ihrer Anfangszeit als Anwältin Mut zugesprochen, jeden kleinen Schritt nach vorne hatte er bejubelt. Mit seiner Schulklasse hatte er ihre Gerichtsverhandlungen besucht. Wie stolz wäre er jetzt auf sie, wo sie doch bald Bennies Teilhaberin werden sollte. Vielleicht wanderten deshalb ihre Gedanken in letzter Zeit so oft zu ihm, überfielen sie in den seltsamsten Situationen – und sie spürte wieder diesen alten tiefen Schmerz.
Warum hatte sie nur bei Anthony übernachtet? Das war ein Fehler gewesen. Sie hätte es wissen müssen.
Ihr Blick wanderte über die hübsche moderne Kommode, das Bücherregal, das Laufband und das Gestell mit den Gewichten. Das war das Schlafzimmer eines Mannes, und sie schämte sich mit einem Mann im Bett zu liegen, aber an einen anderen zu denken. Sie hörte, wie Anthony sich umdrehte. Er
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