Schwesternkuss - Roman
streichelte mit der Hand ihre Schulter.
»Schatz, bist du wach?«, fragte er mit sanfter Stimme.
Vielleicht sollte sie nicht antworten, sich schlafend stellen. Das hatte sie schon öfter getan. Aber dann antwortete sie ihm doch.
»Du hast kaum geschlafen. Spukt diese Hexe immer noch in deinem Kopf herum?«, fragte er.
»Nicht wirklich.« Nein, es waren andere Gespenster.
»Ist es die Arbeit?«
»Ja.« Das war die einfachste und unverfänglichste Antwort. Die Wahrheit konnte sie ihm nicht sagen. Manchmal war es besser zu schwindeln.
»Was treibt dich bei der Arbeit um?« Anthony legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Ist es die Teilhaberschaft mit Bennie?«
»Ja.« Bennie hatte ihr versprochen, darüber im September zu entscheiden. »In gut zehn Tagen sagt sie mir Bescheid. Hast du es vergessen?«
»Nein. Gehst du heute in die Kanzlei?«
»Ich weiß, dass Samstag ist. Aber ich muss. Leider.«
»Damit hatte ich gerechnet. Kommt Bennie auch?«
»Wahrscheinlich. Aber du weißt ja, über ihre Pläne lässt sie alle im Dunkeln.«
»Falls sie kommt, frag sie.«
Bennie jagte Mary nach wie vor gehörigen Respekt ein. Denn sie war älter, klüger und der beste Strafverteidiger in der Stadt. Privat verkehrten sie kaum miteinander. Bennie hielt eine professionelle Distanz zu ihren Mitarbeitern. »Wir reden kaum miteinander. Wir sagen uns nur guten Tag. Wir arbeiten seit einiger Zeit an zu verschiedenen Dingen.«
»Dann wünsch ihr einen guten Tag, und frag sie, ob du Teilhaberin wirst.« Anthony küsste ihren Nacken. »Tu es. Danach fühlst du dich leichter. Sei ein mutiges Mädchen.«
»Aber sie hat das Thema bisher nicht einmal erwähnt. Vielleicht hat sie noch nicht darüber nachgedacht.«
»Das hat sie bestimmt. Jeder, der so eine wichtige Entscheidung zu fällen hat, tut das. Außerdem zeigst du so Eigeninitative. Frag sie. Vielleicht wartet eine freudige Überraschung auf dich.«
Eine halbe Stunde später war Mary auf dem Weg zur Arbeit. Sie stand in einem überfüllten Bus, dessen Klimaanlage zur Reparatur ausgebaut worden war. Zuvor hatte sie geduscht und ein einfaches luftiges weißes Kleid angezogen. Aber schon fühlte sie sich schlapp und kraftlos, als sie sich mit Hilfe einer klebrigen Haltestange ihren Weg durch den Bus bahnte, vorbei an Armen voller Grübchen, dicken Hintern und dampfenden Turnschuhen. Sie ließ sich auf einen freigewordenen Fenstersitz fallen. Bei dieser Luftfeuchtigkeit würde als Erstes ihre Frisur dran glauben müssen. Heute war wohl nicht der richtige Tag, um mit ihrem Boss zu reden.
Abrupt setzte der Bus seine Fahrt fort. Sie sah zum Fenster hinaus, das mit Vaseline, Motoröl oder vielleicht sogar mit Anthrax verschmiert war. Sie fuhren an einem Reisebüro, einem Schnäppchenmarkt und einem Diner vorbei. In dem Lokal saß ein Paar, das ihr bekannt vorkam. Waren das nicht Pa und Fiorella Bucatina?
Sie sprang auf und stieß mit einem Teenager zusammen, als sie sich eher stolpernd auf den Weg zur Tür machte. »Entschuldigung, es tut mir leid.«
»Es ist nichts passiert.«
Mary wollte aussteigen, aber ein Tourist versperrte ihr mit seinem Koffer den Weg. »Entschuldigen Sie, aber ich muss hier raus.«
»Anhalten«, rief der Tourist dem Chauffeur zu, aber der lenkte den überladenen Bus unbeirrt weiter.
»Bitte halten Sie an!« Mary zwängte sich zwischen den anderen Fahrgästen durch, kam aber nicht sehr weit. Inzwischen war der Diner im Dunst des heißen Tages verschwunden. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und rief zu Hause an.
»Wer ist da?«, fragte ihre Mutter.
»Ma? Ich bin’s. Wie geht es dir?«
»Gut. Und dir, Maria?«
»Mir auch.« Da sie nun beide wussten, dass es ihnen gut ging, konnte Mary auf den Punkt kommen. »Ma, ist Pa zu Hause?«
»Nein. Er bringt Fiorella ins Agnes-Krankenhaus.«
Er war es also! »Ins Krankenhaus? Warum? Fehlt ihr was?«
»Sie hat sich mit dem Brotmesser in den Finger geschnitten.«
»Schlimm?«
»Weniger.«
»Hat er vorher gefrühstückt?«
»Was denkst du denn? Ich lasse doch Pa nicht mit leerem Magen aus dem Haus.«
»Und Fiorella?«
»Auch. Was sind das für Fragen?«
Mary wusste nicht genau, was sie sagen sollte. »Ma, ich kann Fiorella nicht leiden.«
»Schweig, Maria! Sie hat eine solche Macht. Sie kann dich hören.«
»Am Telefon? Mom, das ist lächerlich. Sie ist eine Betrügerin.«
Und so erfuhr Vita von ihrer Tochter, welcher Nebentätigkeit Fiorella gestern während des Gebetes nachgegangen war. Kein
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