Schwesternkuss - Roman
Abholtermin war um vier. Sie musste sich beeilen.
»Bin gleich wieder da«, rief sie Marshall am Empfang zu und verschwand im Aufzug. Der wollte sich gerade schließen, als eine Hand zwischen die Türen griff. Die sprangen sofort wieder auf, und vor Alice stand Judy. Sie war außer Atem.
»Hab’ ich dich doch noch erwischt!« Die Türen schlossen sich wieder, und Alice fühlte sich schlagartig unwohl mit Judy in der Enge des Aufzugs.
»Judy, was willst du?«
»Wo gehst du hin?«
»Eine Besorgung. Um was geht’s?«
»Was dagegen, wenn ich mitkomme? Ich möchte mit dir reden.«
»Worüber?«, fragte Alice. Der Aufzug glitt nach unten.
»Über einen Fall, an dem ich arbeite.«
»Lass uns das nach meiner Rückkehr machen.«
»Ich würde dich aber gern begleiten.«
Alice fragte sich, was mit Judy los war. So penetrant kannte sie sie nicht. Ihre Stimme war hoch und dünn, sie schien nervös zu sein. »Es ist besser, du bleibst in der Kanzlei. Es reicht, wenn ich außer Haus muss.«
»Ein bisschen frische Luft würde mir guttun.«
Der Aufzug kam in der Lobby an. Alice stellte sich Judy in den Weg. »Fahr wieder nach oben und halte die Stellung.«
»Das macht schon Mary.«
»Dann pass auf meinen Freund auf.«
»Ich will dich begleiten.« Judy rührte sich nicht vom Fleck. Die Männer von der Security beobachteten die Szene interessiert.
»Das will ich aber nicht. Mom braucht etwas Zeit für sich allein. Kapiert?«
»Okay. Bevor du gehst, möchte ich dich etwas zu dem Schriftsatz fragen, den ich fertig machen muss. Erinnerst du dich noch an den Fall mit Marta Richter? Es war im Winter während eines Schneesturms vor ein paar Jahren. Weißt du noch, unter welchem Namen wir den Fall eingeordnet haben? Mir fällt es nicht mehr ein.«
Alice hatte keine Ahnung, wovon Judy redete. »Als ob das eine Rolle spielen würde.«
»Wahrscheinlich nicht. Jetzt fällt mir der Name auch wieder ein. Wir hatten den Fall unter dem Namen des Angeklagten Elliott Steere eingeordnet.« Judy nickte. »Du hattest Marta gesagt, sie hätte gegen mindestens fünf ethische Richtlinien der CPR verstoßen.«
Alice fragte sich, wofür CPR wohl stand.
»Erinnerst du dich?«
»Kaum.« Auf der Wanduhr in der Lobby war es 15.45 Uhr. Alice musste sich sputen.
»Hast du Marta je dem Disziplinarausschuss gemeldet? Ich will den Fall als Präzedenzfall zitieren.«
»Kein guter Präzedenzfall.«
»Für mich reicht’s. Hast du sie gemeldet?« Judy fixierte sie mit ihren klaren blauen Augen, und Alice verstand. Das war keine Frage, die sie ihr stellte. Das war ein Test – und sie war dabei, ihn zu verlieren.
»Judy, an welchem Fall arbeitest du?«
»Cypress Construction. Der hat eine ähnliche Konstellation.«
»Hast du die Steere-Akte durchgesehen?«
»Warum? Ich kann dich doch fragen.«
»Erschlag mich, aber ich weiß es im Moment nicht. Ich habe andere Sachen im Kopf. Wir reden später darüber.« Alice ging zum Ausgang, aber Judy folgte ihr.
»Wohin gehst du? Warum machst du ein Geheimnis daraus? Du sagst uns doch sonst immer, wohin du gehst, damit wir dich erreichen können.«
»Nein, das mache ich nicht.« Alice war beunruhigt, die Wachmänner beobachteten sie weiterhin sehr interessiert. »Jetzt geh wieder an deine Arbeit.«
»Okay«, antwortete Judy verunsichert und ging zum Aufzug.
Alice stürmte aus dem Haus. Vorbei an den Rothman-Wachmännern eilte sie die Straße hinauf. Judy begann ein noch größeres Problem zu werden, als es Grady war. Es waren nur noch ein paar Stunden bis zum Abflug. Aber ein Telefonanruf könnte alles zunichtemachen. Und Q würde alle Einzelteile des Puzzles zusammensetzen.
Alice rannte, als ginge es um Leben und Tod.
Worum es ja auch ging.
76
Mary hasste es, mit jemandem im Streit zu liegen. Deshalb ging sie zum Empfang und fragte Marshall: »Hast du Judy gesehen?«
»Ja. Sie ist mit Bennie in den Aufzug gestiegen.«
Oje! »Wo sind sie hin?«
»Keine Ahnung. Ich war am Telefon. Diese Reporter drangsalieren mich heute.«
»Hatten sie Streit?«
»Nein. Warum auch?«, antwortete Marshall und verzog die Stirn.
»Stimmt.« Auch Mary ging zum Aufzug. »Bin gleich wieder da.«
»Was ist hier los?«
»Nichts Besonderes.«
»Und wo gehst du hin?«
»Die beiden suchen.« Mary drückte ungeduldig auf den Aufzugknopf.
»Hier sind wohl alle verrückt geworden.« Marshalls Telefon läutete wieder. Mary dauerte das Warten auf den Aufzug zu lange. Sie nahm die Treppe. Sie sprang von Treppenabsatz
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