Schwesternmord
natürlich, wenn es sich um eine offene Drohung handelt; dann leiten wir das Schreiben an die Polizei weiter.«
Maura sah, wie Frost etwas in sein Notizbuch kritzelte, und sie fragte sich, was er wohl geschrieben hatte. Inzwischen war sie so sauer, dass sie am liebsten aufgesprungen wäre und ihm das verdammte Notizbuch aus der Hand gerissen hätte.
»Doc«, fragte Rizzoli mit leiser Stimme, »haben Sie eine Schwester?«
Die Frage traf sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie starrte Rizzoli an; ihre Verärgerung war plötzlich wie weggeblasen. »Wie bitte?«
»Haben Sie eine Schwester?«
»Wieso fragen Sie mich das?«
»Ich muss es nun einmal wissen.«
Maura seufzte vernehmlich. »Nein, ich habe keine Schwester. Und Sie wissen genau, dass ich adoptiert wurde. Wann sagen Sie mir endlich, worum es hier überhaupt geht?«
Rizzoli und Frost tauschten einen kurzen Blick.
Frost klappte sein Notizbuch zu. »Ich denke, es wird Zeit, dass wir es ihr zeigen.«
Sie gingen zur Haustür, Rizzoli voran. Maura trat hinaus in die warme Sommernacht, grell erleuchtet wie ein Rummelplatz von den flackernden Lichtern der Streifenwagen. Ihre innere Uhr war noch auf Pariser Zeit eingestellt, und dort war es jetzt vier Uhr morgens; sie sah alles wie durch einen Schleier der Erschöpfung, und der ganze Abend kam ihr surreal vor, wie ein böser Traum. Kaum war sie zur Tür
hinaus, richteten sich auch schon alle Blicke auf sie. Sie sah ihre Nachbarn, die sich auf der anderen Straßenseite hinter der Absperrung drängten und sie anstarrten. Als Gerichtsmedizinerin war sie es gewohnt, im Licht der Öffentlichkeit zu stehen, auf Schritt und Tritt von Polizei und Medien beobachtet zu werden, doch die Aufmerksamkeit, die ihr an diesem Abend entgegenschlug, war irgendwie anders. Aufdringlicher, geradezu beängstigend. Sie war froh, als Rizzoli und Frost sie in die Mitte nahmen, wie um sie vor neugierigen Blicken zu schützen. Zusammen gingen sie auf den dunklen Ford Taurus zu, der vor Mr. Telushkins Haus am Straßenrand stand.
Maura hatte den Wagen noch nie gesehen, doch den bärtigen Mann mit Latexhandschuhen an den fleischigen Händen, der daneben stand, erkannte sie sofort. Es war Dr. Abe Bristol, ihr Kollege aus der Gerichtsmedizin. Abe war ein echter Gourmand, und seine Leibesfülle spiegelte seine Vorliebe für üppige Speisen. Sein Gürtel konnte den überschüssigen Bauchspeck kaum im Zaum halten. Er starrte Maura an und sagte: »Junge, Junge; das ist wirklich verblüffend. Fast wäre ich selbst drauf reingefallen.« Er deutete mit dem Kopf auf den Wagen. »Ich hoffe, du bist darauf vorbereitet, Maura.«
Vorbereitet worauf?
Ihr Blick ging zu dem geparkten Taurus, und im Schein der Rundumleuchten konnte sie die Umrisse einer Gestalt erkennen, die zusammengesunken über dem Lenkrad hing. Die Windschutzscheibe war mit dunklen Spritzern übersät. Blut.
Rizzoli leuchtete mit ihrer Taschenlampe die Beifahrertür an. Maura verstand zuerst nicht, was sie ihr zeigen wollte; sie war noch ganz auf das blutbespritzte Fenster konzentriert. Dann sah sie, worauf der Lichtstrahl von Rizzolis Maglite gerichtet war. Direkt unter dem Türgriff waren drei parallele Schrammen zu sehen, tief in den Lack geritzt.
»Wie Spuren von Krallen«, sagte Rizzoli. Sie krümmte die Finger, als wollte sie die Kratzbewegung nachahmen.
Maura starrte die Schrammen an. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Keine Krallen. Die Klaue eines gewaltigen Raubvogels.
»Und jetzt kommen Sie mal mit auf die Fahrerseite«, sagte Rizzoli.
Maura stellte keine Fragen, als sie mit Rizzoli um das Heck des Taurus herumging.
»In Massachusetts zugelassen«, sagte Rizzoli. Der Strahl ihrer Taschenlampe streifte das Nummernschild. Doch es war nur ein Detail, im Vorübergehen registriert; Rizzoli ging gleich weiter zur Fahrertür, wo sie stehen blieb und Maura ansah.
»Das ist es, was uns alle so fertig gemacht hat«, sagte sie. Sie leuchtete mit der Taschenlampe in den Wagen.
Der Strahl fiel direkt auf das Gesicht der Frau, das zum Fenster gewandt war. Ihre rechte Wange ruhte auf dem Lenkrad, ihre Augen waren offen.
Maura verschlug es die Sprache. Geschockt starrte sie auf die elfenbeinfarbene Haut, die schwarzen Haare, die vollen Lippen, die leicht geöffnet waren, als sei die Frau überrascht worden. Maura fuhr taumelnd zurück; ihr war, als seien ihre Knochen plötzlich aus Gummi, ihr wurde schwindlig, und sie hatte das Gefühl, hilflos zu treiben, ohne
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