Schwesternmord
dieser Hummerbude vorbeigekommen und an diesem Schrottplatz, wo alte Bettgestelle im Gras vor sich hin rosteten, und hatte wie Maura mit einem amüsierten Kopfschütteln reagiert. Vielleicht war auch sie in Rockport von der Straße abgefahren, um sich ein wenig die Beine zu vertreten, und war an der Statue von André, dem Seehund, stehen geblieben, um auf den Hafen hinauszublicken. Und hatte in der kühlen Brise, die vom Meer wehte, gefröstelt.
Maura stieg wieder in ihren Wagen und setzte die Fahrt nach Norden fort.
Als sie die Küstenstadt Bucksport erreicht hatte und dem Verlauf der Halbinsel nach Süden folgte, stand die Sonne bereits tief über den Bäumen. Sie konnte den Nebel über das Wasser heranwallen sehen, eine graue Wand, die sich auf die Küste zubewegte wie ein hungriges Ungetüm, das den Horizont verschlang. Bevor die Sonne untergeht, dachte sie, wird mein Auto ganz davon eingehüllt sein. Sie hatte sich nicht um eine Hotelreservierung in Fox Harbor gekümmert, sondern war einfach von Boston losgefahren mit der kuriosen Vorstellung im Hinterkopf, dass sie irgendein Motel an der Küste ansteuern und ein Bett für die Nacht finden könnte. Aber an diesem rauen Küstenabschnitt sah sie nur wenige
Motels, und die, an denen sie vorbeikam, hatten allesamt Schilder ausgehängt: BELEGT stand auf ihnen.
Die Sonne sank noch tiefer.
Die Straße beschrieb eine jähe Kurve, und sie packte das Lenkrad fester. Nur mit Mühe gelang es ihr, in der Spur zu bleiben, als sie einen Felsvorsprung umrundete, zwischen knorrigen Bäumen auf der einen und dem Meer auf der anderen Seite.
Und da lag es plötzlich vor ihr – Fox Harbor, in die schützende Rundung einer schmalen Bucht geschmiegt. So klein hatte sie sich die Stadt nicht vorgestellt – sie bestand eigentlich nur aus einem Hafen, einer Kirche und einer Reihe weißer Häuser entlang der Bucht. Im Hafenbecken tanzten die festgemachten Hummerboote wie angeleinte Opfertiere, die darauf warteten, von der heranrückenden Nebelbank verschluckt zu werden.
Sie fuhr langsam die Main Street ab und sah abgetakelte Veranden, die dringend einen neuen Anstrich nötig gehabt hätten, und Fenster mit verschlissenen Vorhängen. Ganz offensichtlich keine reiche Stadt, nach den rostigen Pickups in den Hauseinfahrten zu urteilen. Die einzigen neueren Modelle, die sie entdecken konnte, standen auf dem Parkplatz des Bayview-Motels – Autos mit Kennzeichen von New York, Massachusetts oder Connecticut. Stadtflüchtlinge, die die drückende Hitze gegen Hummersandwiches und ein Stückchen vom Paradies eingetauscht hatten.
Vor der Rezeption des Motels hielt sie an. Alles schön der Reihe nach, dachte sie; ich brauche zuerst mal ein Bett für die Nacht. Und das hier schien das einzige Haus am Ort zu sein. Sie stieg aus und streckte die steifen Glieder, sog die feuchte, salzige Luft in ihre Lungen. Obwohl auch Boston eine Hafenstadt war, konnte sie zu Hause nur selten das Meer riechen; dazu war jede Brise, die vom Hafen hereinwehte, zu sehr mit den städtischen Gerüchen von Diesel, Autoabgasen und heißem Asphalt vermischt. Hier jedoch konnte sie das Salz regelrecht schmecken, hier spürte sie es
wie einen feinen Schleier, der sich auf ihre Haut legte. Sie stand auf dem Parkplatz des Motels, ließ sich den Wind ins Gesicht wehen und hatte das Gefühl, plötzlich aus einem tiefen Schlaf erwacht zu sein. Wieder frisch und munter und lebendig zu sein.
Die Inneneinrichtung des Motels entsprach genau ihren Erwartungen: Holztäfelung im Stil der sechziger Jahre, abgetretener grüner Teppichboden, die Wanduhr in ein Steuerrad eingefasst. Die Rezeption war nicht besetzt.
Sie beugte sich über den Tresen. »Hallo?«
Knarrend öffnete sich eine Tür, und ein dicker Mann mit schütterem Haar kam herein. Auf seiner Nase saß wie eine Libelle eine zierliche Nickelbrille.
»Haben Sie für heute Nacht noch ein Zimmer frei?«
Ihre Frage stieß auf hartnäckiges Schweigen. Der Mann glotzte sie nur an, die Kinnlade heruntergeklappt, den Blick starr auf ihr Gesicht geheftet.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie, da sie annahm, dass er sie nicht verstanden hatte. »Haben Sie noch etwas frei?«
»Sie … Sie wollen ein Zimmer?«
Sagte ich das nicht gerade?
Er senkte den Blick auf das Meldebuch vor ihm auf dem Tisch, um ihn dann wieder auf Maura zu richten. »Ich … äh … es tut mir Leid. Wir sind heute voll belegt.«
»Ich komme gerade aus Boston und habe eine lange Fahrt hinter mir. Könnte ich
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