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Schwesternmord

Schwesternmord

Titel: Schwesternmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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stressigen Tag im Büro hatten?«
    Er gab keine Antwort. Stattdessen griff er nach seinem Glas. Und das war zweifellos ein Teil des Problems, dachte sie. Ein ehrgeiziger Mann in einer Führungsposition plus übermäßiger Alkoholgenuss ergibt eine Lebensgefährtin mit einem blauen Auge.
    Er setzte sein Glas wieder ab. »Ich wollte nur, dass sie zu mir zurückkommt.«
    »Und Ihre Methode, sie zu überreden, bestand darin, ihr Todesdrohungen durch den Briefschlitz zu werfen?«
    »Das war ich nicht.«
    »Sie hat sich deswegen mehrfach an die Polizei gewandt.«
    »Das ist nicht wahr.«
    »Detective Ballard sagt, das habe sie getan.«
    Cassell schnaubte verächtlich. »Dieser Volltrottel hat alles geglaubt, was sie ihm erzählt hat. Er spielt gern den edlen Ritter, da kann er sich schön wichtig vorkommen. Wussten Sie, dass er eines Tages hier aufgekreuzt ist und mir gesagt hat, wenn ich sie noch einmal anrühren sollte, würde er mich windelweich prügeln? Ich finde das ganz schön erbärmlich.«

    »Sie behauptete, Sie hätten die Fliegengitter an ihren Fenstern zerschnitten.«
    »Das war ich nicht.«
    »Wollen Sie behaupten, dass sie es selbst getan hat?«
    »Ich sage nur, dass ich es nicht getan habe.«
    »Haben Sie ihren Wagen zerkratzt?«
    »Was?«
    »Haben Sie ihre Wagentür verunstaltet?«
    »Das höre ich jetzt zum ersten Mal. Wann soll das denn passiert sein?«
    »Und der tote Kanarienvogel in ihrem Briefkasten?«
    Cassell lachte ungläubig auf. »Sehe ich vielleicht aus wie ein Typ, der so perverse Sachen macht? Ich war ja noch nicht mal in der Stadt, als das passiert sein soll. Wo sind die Beweise dafür, dass ich es war?«
    Sie sah ihn einen Moment lang an und dachte: Natürlich leugnet er es; wir können tatsächlich nicht beweisen, dass er ihr Auto zerkratzt oder einen toten Vogel in ihren Briefkasten geworfen hat. Dieser Mann hatte es nicht durch Dummheit so weit gebracht.
    »Warum sollte Anna in diesem Punkt lügen?«, fragte sie.
    »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Aber sie hat gelogen.«

10
    Gegen Mittag saß Maura bereits in ihrem Auto, und bald steckte sie in der Blechlawine der Wochenendurlauber fest, die wie Lemminge Richtung Norden strebten, auf der Flucht aus einer Stadt, wo der Asphalt jetzt schon vor Hitze flimmerte. Gefangen in ihren Autos, mit ihren quengeligen Kindern auf dem Rücksitz, kamen die Ausflügler nur im Schritttempo voran. Doch sie harrten geduldig aus, angelockt von der Aussicht auf kühle Strände und frische, salzige Seeluft. Das war auch die Vision, an der Maura sich festhielt, als sie im Stau steckte und auf eine Schlange von Autos blickte, die sich bis zum Horizont hinzog. Sie war noch nie in Maine gewesen. Sie kannte es nur als Kulisse im L.-L.-Bean-Katalog, wo braun gebrannte Männer und Frauen mit Parkas und Trekkingschuhen durch die Landschaft stapften, während ein Golden Retriever sich zu ihren Füßen im Gras wälzte. In der Welt von L. L. Bean war Maine das Land der Wälder und der nebligen Küsten, ein mythischer Ort, zu schön, um wahr zu sein, außer vielleicht als Hoffnung, als Traum. Ich werde bestimmt enttäuscht sein, dachte sie, als sie auf die endlose Reihe von Autos starrte, die im grellen Sonnenlicht funkelten. Aber dort sind nun einmal die Antworten auf meine Fragen.
    Vor Monaten hatte Anna Leoni diese Reise in den Norden unternommen. Es musste ein Tag im Vorfrühling gewesen sein, noch recht kühl, der Verkehr längst nicht so dicht wie heute. Sie war vermutlich über die Tobin Bridge aus Boston herausgefahren und dann auf der Route 95 Richtung Norden, auf die Grenze von Massachusetts und New Hampshire zu.
    Ich folge deinen Spuren. Ich muss wissen, wer du warst. Nur so kann ich herausfinden, wer ich selbst bin.

    Gegen zwei überquerte sie die Grenze von New Hampshire nach Maine; und hier löste sich der Verkehr plötzlich auf wundersame Weise auf, als sei die Quälerei bis zu diesem Punkt nur eine Prüfung gewesen, nach der sich nun die Tore öffneten, um die wenigen Auserwählten einzulassen. Sie hielt nur kurz an einer Raststätte, wo sie sich ein Sandwich kaufte, und um drei hatte sie die Interstate bereits verlassen und fuhr weiter in Richtung Norden auf der Route 1, die sich an der Küste entlangschlängelte.
    Auch du bist diesen Weg gefahren.
    Die Szenerie, die sich Annas Blicken dargeboten hatte, war wohl eine andere gewesen; die Felder, die sich gerade grün zu färben begannen, die noch winterkahlen Bäume. Aber gewiss war auch Anna an genau

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