Schwesternmord
erkundigte, zumal ich unten am Strand noch andere Objekte frei hatte.«
Maura wandte sich zu ihr um. Es dämmerte schon, und Miss Clausen hatte sich in eine dunkle Ecke zurückgezogen. »Meine Schwester hat sich speziell nach diesem Haus erkundigt?«
Miss Clausen zuckte mit den Achseln. »Ich schätze mal, der Preis hat ihr zugesagt.«
Sie verließen das düstere Wohnzimmer und gingen einen Flur entlang. Falls es stimmte, dass man von einem Haus auf seine Bewohner schließen konnte, dann mussten noch Spuren von Anna Leoni in diesen Räumen zu finden sein. Aber auch andere Mieter hatten hier gewohnt, und Maura fragte sich, was von dem Nippes und den Bildern an den Wänden wohl Anna gehört hatte und was andere vor ihr zurückgelassen hatten. Dieses Pastellgemälde eines Sonnenuntergangs
– das war bestimmt nicht von Anna. Eine Schwester von mir würde nie so etwas Scheußliches aufhängen. Und dieser abgestandene Zigarettengeruch, der in der Luft hing – es war doch gewiss nicht Anna gewesen, die hier geraucht hatte. Eineiige Zwillinge sind sich oft auf fast unheimliche Weise ähnlich; müsste Anna da nicht Mauras Abneigung gegen Zigaretten geteilt haben? Hätte sie nicht auch beim leisesten Hauch von Tabakrauch die Nase gerümpft und zu hüsteln begonnen?
Sie betraten ein Schlafzimmer mit einer abgezogenen Matratze.
»Dieses Zimmer hat sie wohl nicht benutzt, schätze ich«, sagte Miss Clausen. »Der Schrank und die Kommoden waren leer.«
Als Nächstes kam ein Badezimmer. Maura ging hinein und öffnete den Medikamentenschrank. Sie sah Paracetamol, Rhinopront und Ricola-Hustenpastillen – Markennamen, die sie durch ihre Vertrautheit erschreckten. Das waren genau die Produkte, die sie selbst zu Hause hatte. Sogar bei Kleinigkeiten wie der Marke des Hustenmittels waren wir praktisch identisch, dachte sie.
Sie schloss den Schrank und ging weiter zur letzten Tür auf dem Flur.
»Das war das Schlafzimmer, das sie benutzt hat«, sagte Miss Clausen.
Das Zimmer war sauber und aufgeräumt, die Bettdecke eingesteckt, die Kommode frei von Krimskrams. Genau wie mein Schlafzimmer , dachte Maura. Sie ging zum Schrank und öffnete die Tür. An der Stange hingen Hosen, gebügelte Blusen und Kleider. Größe 36. Mauras Größe.
»Die Staatspolizei war vorige Woche hier und hat das ganze Haus auf den Kopf gestellt.«
»Haben sie irgendetwas Interessantes gefunden?«
»Mir haben sie jedenfalls nichts gesagt. Sie hat hier nicht viele Sachen gehabt. Hat ja nur ein paar Monate in diesem Haus gewohnt.«
Maura wandte sich um und sah aus dem Fenster. Es war noch nicht dunkel, aber ein Blick auf die düstere Kulisse des Waldes verriet ihr, dass der Einbruch der Nacht unmittelbar bevorstand.
Miss Clausen stand in der Schlafzimmertür, als wollte sie einen Wegezoll kassieren, ehe sie Maura wieder hinausließ. »Ist wirklich kein schlechtes Haus«, sagte sie.
Doch, das ist es, dachte Maura. Es ist ein scheußliches kleines Haus.
»Um diese Jahreszeit ist nicht mehr viel frei. Praktisch alles belegt. Hotels, Motels. Kein Platz in der Herberge.«
Maura schaute weiter stur aus dem Fenster. Sie hätte alles getan, um sich nicht in weitere Gespräche mit dieser unangenehmen Frau verwickeln zu lassen.
»Na ja, war nur so eine Idee. Dann haben Sie wohl schon ein Zimmer gefunden für heute Nacht.«
Also darauf will sie hinaus. Maura drehte sich zu ihr um. »Wenn Sie schon fragen – nein, ich habe noch kein Zimmer gefunden. Im Bayview Motel war nichts mehr frei.«
Die Frau antwortete mit einem verkniffenen kleinen Lächeln. »Wie überall.«
»Man hat mir gesagt, in Ellsworth könnte ich noch etwas bekommen.«
»So? Na ja, wenn Sie die weite Strecke noch fahren wollen. Im Dunkeln werden Sie länger brauchen, als Sie meinen. Eine Kurve nach der anderen.« Miss Clausen deutete auf das Bett. »Ich könnte Ihnen frische Bettwäsche besorgen. Ich würde Ihnen auch nicht mehr berechnen als das Motel. Falls Sie Interesse haben.«
Maura sah das Bett an, und sie hatte plötzlich das Gefühl, dass eiskalte Finger ihr über den Rücken strichen. Meine Schwester hat hier geschlafen .
»Na, wie Sie wollen. Sie können es auch bleiben lassen.«
»Ich weiß nicht …«
»Wenn Sie mich fragen«, brummte Miss Clausen, »bleibt Ihnen nicht viel anderes übrig.«
Maura stand auf der Veranda und sah zu, wie die Rücklichter von Britta Clausens Pick-up vom dunklen Vorhang der Bäume verschluckt wurden. Sie blieb noch eine Weile in der
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