Schwesternmord
vielleicht anderswo in der Stadt ein Zimmer bekommen?«
Er schluckte. »Ist ziemlich viel los an diesem Wochenende. Erst vor’ner Stunde war ein Paar hier, die haben auch nach einem Zimmer gefragt. Ich hab rumtelefoniert, aber schließlich musste ich sie bis nach Ellsworth schicken.«
»Wo ist das?«
»Ungefähr dreißig Meilen von hier.«
Maura warf einen Blick auf die Uhr in dem Steuerrad. Es war schon Viertel vor fünf; die Suche nach einem Motelzimmer würde warten müssen.
»Können Sie mir sagen, wo ich das Büro von Land-and-Sea-Immobilien finde?«
»Main Street. Nach der zweiten Kreuzung auf der linken Seite.«
Maura betrat die Geschäftsstelle von Land-and-Sea-Immobilien und fand sich abermals in einem menschenleeren Empfangsraum. War denn in dieser Stadt niemand auf seinem Posten? Das Büro roch nach Zigaretten, und auf dem Schreibtisch stand ein Aschenbecher, der vor Kippen überquoll. An der Wand hingen die Immobilienangebote der Firma. Einige der Fotos waren bereits stark vergilbt – offensichtlich war das hier nicht gerade ein boomender Markt. Maura überflog die Offerten und entdeckte eine baufällige Scheune (PERFEKT FÜR EINE PFERDEZUCHT!), ein Haus mit windschiefer Veranda (PERFEKT FÜR HEIMWERKER!) und ein Foto von Bäumen – das war alles, nur Bäume und sonst nichts (RUHIG UND ABGESCHIEDEN! PERFEKTES GRUNDSTÜCK FÜR WOHNHAUS!). Gibt es in dieser Stadt auch irgendetwas, das nicht perfekt ist?, fragte sie sich.
Dann hörte sie, wie die Hintertür aufging, und als sie sich umdrehte, sah sie einen Mann mit einer tropfenden Kaffeekanne in der Hand hereinkommen, die er auf dem Tisch abstellte. Er war kleiner als Maura, hatte einen kantigen Kopf und kurz geschorenes graues Haar. Seine Kleider waren ihm ein paar Nummern zu groß; Hemdsärmel und Hosenbeine waren umgeschlagen, als trüge er die abgelegten Sachen eines Riesen. Der Schlüsselbund an seinem Gürtel klimperte, als er breitbeinig auf Maura zukam, um sie zu begrüßen.
»Entschuldigen Sie bitte, ich war gerade hinten und habe die Kaffeekanne ausgespült. Sie müssen Dr. Isles sein.«
Maura stutzte, als sie die Stimme hörte. Sie war zwar recht tief und rau, zweifellos von den ganzen Zigaretten dort im Aschenbecher, aber es war eindeutig die Stimme einer Frau. Erst jetzt bemerkte Maura die Brüste, die sich unter dem weiten Hemd abzeichneten.
»Sie sind … Mit Ihnen habe ich heute früh telefoniert?«, fragte Maura.
»Britta Clausen.« Sie begrüßte Maura mit einem knappen, energischen Händedruck. »Harvey sagte mir, dass Sie in der Stadt sind.«
»Harvey?«
»Drüben vom Bayview Motel. Er hat angerufen, um mir zu sagen, dass Sie auf dem Weg sind.« Die Frau musterte Maura von Kopf bis Fuß. »Na ja, ich denke, einen Ausweis müssen Sie mir nicht vorlegen. Wenn man Sie so anschaut, erübrigt sich wohl die Frage, wessen Schwester Sie sind. Möchten Sie mit mir zum Haus hochfahren?«
»Ich fahre Ihnen mit meinem Wagen nach.«
Miss Clausen sah die Schlüssel an ihrem Bund durch und brummte zufrieden, als sie den richtigen gefunden hatte. »Das ist er. Skyline Drive. Die Polizei ist mit ihren Untersuchungen fertig, also geht es wohl in Ordnung, wenn ich es Ihnen zeige.«
Maura folgte Miss Clausens Pick-up eine leicht ansteigende Straße entlang, die jäh landeinwärts schwenkte und sich in Serpentinen ein Steilufer hinaufwand. In den Kurven konnte sie in der Ferne die Felsenküste sehen, doch das Wasser war von einer dichten Nebeldecke verhüllt, und auch Fox Harbor war unter ihnen im wabernden Dunst verschwunden. Plötzlich leuchteten direkt vor ihr die Bremslichter von Miss Clausens Wagen auf. Maura konnte gerade noch rechtzeitig auf die Bremse steigen. Ihr Lexus schlitterte über feuchtes Laub und touchierte mit der Stoßstange ein am Wegrand eingeschlagenes Zu-verkaufen-Schild von Land-and-Sea-Immobilien, ehe er zum Stehen kam.
Miss Clausen steckte den Kopf aus dem Fenster. »He, alles in Ordnung da hinten?«
»Nichts passiert, danke. Tut mir Leid, ich hab einen Moment nicht aufgepasst.«
»Ja, die letzte Kurve kommt ziemlich überraschend. Da vorne rechts zweigt die Zufahrt ab.«
»Ich bleibe dicht hinter Ihnen.«
Miss Clausen lachte. »Aber nicht zu dicht, okay?«
Der ungeteerte Weg war so dicht von Bäumen überhangen, dass Maura durch einen grünen Tunnel zu fahren glaubte. Nach einer Weile lichtete sich der Wald unvermittelt und gab den Blick auf ein kleines, mit Zedernholzschindeln gedecktes Haus
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