Schwesternmord
heranrückenden Dunkelheit stehen und lauschte auf das Zirpen der Grillen, dem Rascheln des Laubs. Da hörte sie plötzlich hinter sich ein Quietschen. Sie fuhr herum und sah, dass die Schaukel sich bewegte – wie von einer Geisterhand angestoßen, schwang sie hin und her. Fröstelnd ging sie ins Haus zurück und wollte gerade die Tür zusperren, als sie plötzlich reglos verharrte. Wieder spürte sie diesen eisigen Hauch im Nacken.
Die Tür war mit vier Schlössern versehen.
Sie starrte auf zwei Ketten, einen Riegel und ein normales Türschloss. Die Messingplatten und Schrauben glänzten noch, als wären sie gestern erst montiert worden. Neue Schlösser . Sie schob den Riegel vor, sperrte ab und legte beide Ketten vor. Das Metall fühlte sich in ihren Fingern eiskalt an.
Sie ging in die Küche und schaltete die Lichter ein, sah stumpfes Linoleum am Boden, einen kleinen Esstisch mit abgestoßener Resopalbeschichtung. In einer Ecke grummelte ein alter Kühlschrank vor sich hin. Doch es war die Hintertür, die ihren Blick anzog. Drei Schlösser diesmal, die Messingplatten ebenfalls funkelnagelneu. Sie spürte, wie ihr Herz schneller hämmerte, als sie auch dort absperrte. Dann drehte sie sich um und entdeckte zu ihrer Verblüffung noch eine weitere verriegelte Tür, die von der Küche abging. Wo sie wohl hinführte?
Maura zog den Riegel zurück und öffnete die Tür. Sie erblickte eine enge Holztreppe, die in einen dunklen Keller hinabführte. Von unten wehte ihr kühle Luft entgegen, und sie roch feuchte Erde. Da war es wieder, das Kribbeln in ihrem Nacken.
Der Keller. Wie kommt jemand auf die Idee, die Tür zum Keller zu verriegeln?
Sie schloss die Tür und schob den Riegel vor. Da fiel ihr
auf, dass dieses Schloss anders war als die anderen; es war alt und verrostet.
Jetzt hatte sie plötzlich das Bedürfnis, zu überprüfen, ob die Fenster auch alle verriegelt waren. Anna hatte sich so sehr gefürchtet, dass sie dieses Haus in eine Festung verwandelt hatte, und Maura konnte ihre Angst immer noch spüren; sämtliche Zimmer waren davon durchdrungen. Sie vergewisserte sich, dass die Küchenfenster verschlossen waren, und ging weiter ins Wohnzimmer.
Erst als sie ganz sicher war, dass im ganzen Haus die Fenster fest verriegelt waren, machte sie sich endlich daran, das Schlafzimmer näher in Augenschein zu nehmen. Sie stand vor dem offenen Schrank und ließ den Blick über die Kleider schweifen. Eins nach dem anderen schob sie sie auf der Stange zur Seite, um sie zu begutachten, und sie stellte fest, dass sie alle genau ihre Größe hatten. Dann nahm sie eines vom Bügel – ein schwarzes Strickkleid in genau dem schlichten, klaren Schnitt, den sie selbst bevorzugte. Sie stellte sich vor, wie Anna im Kaufhaus gestanden und bei diesem Kleid verweilt hatte. Wie sie einen Blick auf das Preisschild geworfen und sich das Kleid vor dem Spiegel an den Körper gehalten hatte, und wie sie gedacht hatte: Das ist es, das nehme ich.
Maura knöpfte ihre Bluse auf, zog die Hose aus. Sie stieg in das schwarze Kleid, und als sie den Reißverschluss hochzog, fühlte sie, wie der Stoff sich wie eine zweite Haut an ihre Figur schmiegte. Sie drehte sich zum Spiegel um. Das ist es, was Anna gesehen hat. Das gleiche Gesicht, die gleiche Figur. Hat sie auch mit Bedauern registriert, wie sie in der Hüfte auseinander ging, ein untrügliches Zeichen, dass sie allmählich in die Jahre kam? Hatte sie sich auch zur Seite gedreht, um zu sehen, ob ihr Bauch noch flach genug war? Es gibt wohl keine Frau, die nicht vor dem Spiegel dieses kleine Ballett vollführt, wenn sie ein neues Kleid anprobiert. Einmal linksherum, einmal rechtsherum. Sehe ich von hinten auch nicht zu fett aus?
Sie hielt inne, als sie gerade die rechte Seite dem Spiegel zuwandte. Ihr Blick fiel auf ein Haar, das an dem Stoff hing. Sie zupfte es ab und hielt es gegen das Licht. Es war schwarz wie die ihren, aber länger. Das Haar einer toten Frau.
Das Läuten des Telefons ließ sie herumfahren. Sie ging zum Nachttisch und verharrte mit pochendem Herzen, während das Telefon noch ein zweites und drittes Mal läutete. Jedes schrille Rasseln zerriss jäh die Stille in dem leeren Haus. Bevor es ein viertes Mal läuten konnte, nahm sie den Hörer ab.
»Hallo?… Hallo?«
Ein Klicken, und dann das Freizeichen.
Verwählt, dachte sie. Weiter nichts.
Draußen frischte der Wind auf; das Rauschen der Blätter und das Ächzen der umgebogenen Äste drang selbst durch das
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