Schwesternmord
schrecklichen Dinge, die nur Sie und er gesehen haben.«
Maura dachte an die vielen Stunden, die sie und Yoshima zusammen im Autopsiesaal verbracht hatten, mit seinen Edelstahltischen und den scharfen Instrumenten. Immer schien er zu erahnen, was sie gerade brauchte, noch ehe sie es selbst wusste. Ja, es war ein besonderes Verhältnis, das sie verband, und das war auch nur natürlich – sie waren schließlich ein Team. Aber nachdem sie ihre OP-Kittel ausgezogen und die Überschuhe abgestreift hatten, gingen sie beide zur Tür hinaus und zurück in ihr jeweils eigenes Leben. Außerhalb
der Arbeit pflegten sie keinen Kontakt; nie waren sie auch nach Feierabend zusammen etwas trinken gegangen. In dieser Beziehung ähneln wir uns, dachte sie. Zwei Einzelgänger, die sich nur treffen, um zusammen Leichen zu sezieren.
»Hören Sie«, Rizzoli seufzte. »Ich mag Yoshima. Es ist mir äußerst unangenehm, auch nur die Möglichkeit anzusprechen. Aber es ist nun einmal etwas, was ich in Betracht ziehen muss, wenn ich meinen Job richtig machen will.«
»Und was ist Ihr Job? Mich verrückt zu machen? Ich bin so schon mit den Nerven am Ende, Jane; da müssen Sie mir nicht auch noch Angst vor den Menschen einjagen, denen ich vertrauen muss.« Maura raffte die Papiere von ihrem Schreibtisch auf. »Sind Sie fertig mit meinem Wagen? Ich würde jetzt gerne nach Hause fahren.«
»Ja, wir haben alles erledigt. Aber ich bin mir nicht so sicher, ob Sie wirklich nach Hause fahren sollten.«
»Was soll ich denn sonst tun?«
»Es gibt noch andere Möglichkeiten. Sie könnten in ein Hotel gehen. Sie können auch auf meiner Couch schlafen. Ich habe gerade mit Detective Ballard gesprochen, und er hat erwähnt, dass in seinem Haus noch ein Bett frei ist.«
»Wieso telefonieren Sie mit Ballard?«
»Er fragt jeden Tag nach, wie die Ermittlungen laufen. Vor einer Stunde hat er wieder angerufen, und ich habe ihm erzählt, was mit Ihrem Auto passiert ist. Er hat sich gleich ins Auto gesetzt, um es sich anzusehen.«
»Er ist jetzt gerade unten auf dem Parkplatz?«
»Ist vor ein paar Minuten gekommen. Er macht sich Sorgen, Doc. Und ich auch.« Rizzoli hielt inne. »Also, was wollen Sie tun?«
»Ich weiß nicht …«
»Na ja, ein paar Minuten haben Sie noch Zeit zum Überlegen.« Rizzoli hievte sich aus dem Stuhl hoch. »Kommen Sie, ich gehe mit Ihnen raus.«
Wenn das keine absurde Situation ist, dachte Maura, als
sie zusammen den Flur entlanggingen. Eine Frau, die kaum noch aus dem Sessel hochkommt, macht für mich den Bodyguard. Aber Rizzoli ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie hier die Verantwortung hatte, dass sie bereit war, die Rolle der Beschützerin zu übernehmen. Sie war es, die die Tür öffnete und als Erste ins Freie trat.
Maura folgte ihr über den Parkplatz zu ihrem Lexus. Neben dem Wagen warteten Frost und Ballard.
»Wie geht es Ihnen, Maura?«, fragte Ballard. Er stand im Schein der Straßenlampe, doch seine Augen lagen im Schatten; sie blickte in ein Gesicht, dessen Ausdruck sie nicht deuten konnte.
»Gut, danke.«
»Das hätte wesentlich schlimmer ausgehen können.« Er wandte sich an Rizzoli. »Haben Sie ihr gesagt, was wir denken?«
»Ich habe ihr gesagt, dass sie heute Abend vielleicht besser nicht nach Hause gehen sollte.«
Mauras Blick fiel auf ihren Wagen. Die drei Schrammen waren sehr auffallend und noch hässlicher, als sie sie in Erinnerung hatte; wie von den Krallen eines Raubtiers geschlagene Wunden. Annas Mörder spricht mit mir. Und ich kann nicht wissen, wie nahe er mir wirklich gekommen ist.
Frost wandte sich an sie. »Die Spurensicherung hat eine kleine Delle in der Fahrertür gefunden.«
»Die ist alt. Da ist mir vor ein paar Monaten jemand auf einem Parkplatz ins Auto gefahren.«
»Okay, also sind es nur diese Kratzer. Sie haben ein paar Abdrücke sichergestellt. Sie werden auch welche von Ihnen brauchen, Doc. Sie sollten sie so bald wie möglich ins Labor schicken.«
»Geht in Ordnung.« Sie dachte an all die Finger, von denen sie im Autopsiesaal bereits Abdrücke genommen hatten, an all das erkaltete Fleisch, das dort routinemäßig auf Pappkarton gepresst wurde. Meine bekommen sie schon ein bisschen eher. Noch zu meinen Lebzeiten. Sie verschränkte
die Arme vor der Brust; trotz der warmen Abendluft fröstelte sie. Sie stellte sich vor, wie sie ihr leeres Haus betrat, wie sie sich in ihrem Schlafzimmer einschloss. Aber auch mit all den Schlössern und Riegeln war es immer noch ein
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