Schwesternmord
Haus und keine Festung. Ein Haus mit Fensterscheiben, die man mühelos einschlagen, mit Fliegengittern, die man mit einem schlichten Taschenmesser zerschneiden konnte.
»Sie sagten, es sei Charles Cassell gewesen, der Annas Wagen zerkratzt hat.« Maura sah Rizzoli an. » Das da dürfte er wohl nicht gewesen sein. Nicht bei meinem Wagen.«
»Nein, dazu hätte er keinen Grund. Das soll eindeutig eine Warnung an Sie sein«, sagte Rizzoli leise. »Vielleicht war Anna das Opfer einer Verwechslung.«
Ich bin es. Ich bin diejenige, die sterben sollte.
»Wohin wollen Sie gehen, Doc?«, fragte Rizzoli.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Maura. »Ich weiß nicht, was ich tun soll …«
»Dürfte ich vielleicht vorschlagen, dass Sie nicht die ganze Nacht auf dem Parkplatz herumstehen, wo jeder Sie sehen kann?«, warf Ballard ein.
Mauras Blick ging zur Straße. Sie sah die Silhouetten der Menschen, die das flackernde Rundumlicht des Streifenwagens angelockt hatte. Menschen, deren Gesichter sie nicht sehen konnten, weil sie im Schatten waren, während sie hier im hellen Schein der Straßenlampe stand wie ein Star auf der Bühne.
»Ich habe zu Hause noch ein Zimmer frei«, sagte Ballard.
Sie sah ihn nicht an, hielt den Blick stattdessen starr auf jene gesichtslosen Schatten gerichtet. Und dachte dabei: Das geht alles viel zu schnell. Zu viele Entscheidungen, die ich Hals über Kopf treffen muss. Und die ich hinterher vielleicht bereuen werde.
»Doc?«, fragte Rizzoli. »Was denken Sie?«
Schließlich sah Maura Ballard in die Augen. Und fühlte sich sofort wieder auf verstörende Weise zu ihm hingezogen. »Ich weiß nicht, wo ich sonst hingehen soll«, sagte sie.
Er fuhr direkt hinter ihr; so dicht, dass das grelle Licht seiner Scheinwerfer im Rückspiegel sie blendete. Es war, als hätte er Angst, sie zu verlieren; als fürchte er, dass sie versuchen könnte, ihn im dichten Verkehrsgewühl abzuschütteln. Er ließ den Abstand auch dann nicht größer werden, als sie sich schon dem ruhigen Vorort Newton näherten und Maura wenig später zweimal um seinen Block fuhr, wie er sie angewiesen hatte, um sich zu vergewissern, dass ihnen kein Auto folgte. Als sie schließlich vor seinem Haus anhielt, stand er fast sofort neben ihrem Wagen und klopfte an die Scheibe.
»Fahren Sie in meine Garage«, sagte er.
»Da nehme ich Ihnen doch den Platz weg.«
»Das ist schon in Ordnung. Ich will nicht, dass Ihr Wagen hier offen auf der Straße herumsteht. Ich mache Ihnen das Tor auf.«
Sie bog in die Auffahrt ein und sah zu, wie das Tor sich polternd öffnete und den Blick auf eine ordentlich aufgeräumte Garage freigab. An einer Holztafel mit Haken war fein säuberlich das Werkzeug aufgehängt, und in Einbauregalen standen Farbeimer in Reih und Glied. Sogar der Betonboden glänzte wie frisch poliert. Sie lenkte den Wagen in die Garage, und sofort schloss sich das Tor hinter ihr und versperrte die Sicht auf ihren Wagen von der Straße aus. Sie blieb einen Moment lang sitzen und bereitete sich innerlich auf den vor ihr liegenden Abend vor. Noch vor wenigen Minuten war ihr der Plan, in ihr eigenes Haus zurückzukehren, unklug vorgekommen, viel zu riskant. Jetzt fragte sie sich, ob diese Alternative so viel klüger war.
Ballard öffnete ihre Tür. »Kommen Sie rein. Ich zeige Ihnen, wie Sie die Alarmanlage scharfschalten können, falls ich mal nicht da sein sollte.«
Er führte sie ins Haus und durch einen kurzen Flur in die Diele. Dort wies er auf ein Tastenfeld, das neben der Haustür angebracht war.
»Ich habe sie erst vor ein paar Monaten auf den neuesten Stand bringen lassen. Zuerst geben Sie den Sicherheitscode ein, dann drücken Sie auf EIN. Wenn die Anlage aktiviert ist und irgendjemand eine Tür oder ein Fenster öffnet, wird sofort ein Alarm ausgelöst, der so laut ist, dass Ihnen die Ohren abfallen. Gleichzeitig wird automatisch die Sicherheitsfirma alarmiert, und die ruft dann hier im Haus an. Zum Ausschalten müssen sie denselben Code eingeben und dann auf AUS drücken. So weit alles klar?«
»Ja. Möchten Sie mir den Code verraten?«
»Dazu wollte ich gerade kommen.« Er warf ihr einen Blick zu. »Ihnen ist ja wohl klar, dass ich gerade im Begriff bin, Ihnen den numerischen Schlüssel zu meinem Haus anzuvertrauen.«
»Überlegen Sie, ob Sie mir trauen können?«
»Versprechen Sie mir nur, den Code nicht an irgendwelche zwielichtigen Bekannten weiterzugeben.«
»Von denen habe ich weiß Gott eine Menge.«
»Klar.«
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