Schwiegertöchter (German Edition)
verfallener Romantik führen würden.
Charlotte war überwältigt. Sie war noch nie in Venedig gewesen. Sie war noch nie in einer Kunstgalerie gewesen, wo Bilder an den Wänden hingen, gemalt vor Hunderten von Jahren, durch deren Szenerien sie noch heute, Hand in Hand mit der Geschichte, spazieren konnte. Noch nie hatte sie auf einem Fischmarkt winzige Butterkrebse aus einer Papiertüte gegessen oder war mit einem Wassertaxi gefahren oder hatte an einem Nachmittag in einer heißen, dämmrigen Kirche gesessen, die nackten Schultern respektvoll mit einem Papierschal bedeckt, und die Jungfrau Maria als irgendetwas anderes als eine Art heilige Chiffre betrachtet, die den katholischen Mädchen an der Schule vorbehalten war. Sie hatte auch nie gedacht, dass sie einmal mit jemandem verheiratet sein würde, den sie so sehr lieben und bewundern würde, dass sie sich manchmal irgendwo anlehnen musste, wenn sie ihn ansah, und der dazu noch so viel mehr wusste als sie selbst.
»Das stimmt ja nicht«, sagte Luke. »Ich weiß nur andere Dinge.«
»Aber sie sind wichtig. Ich meine, Tizian und Carpaccio und die Republik Venedig und solche Sachen. Sie sind wichtig.«
»Die Dogen wären hocherfreut, wenn sie das hörten.«
»Nimmst du mich auf den Arm?«
»Nur ein bisschen«, sagte Luke.
»Es macht mir nichts aus«, sagte Charlotte. »Ehrlich. Irgendwann vielleicht schon, aber jetzt gefällt es mir, es gibt mir das Gefühl …« Sie hielt inne.
»Was?«
»Dass ich nichts falsch machen kann«, sagte Charlotte und lachte.
Luke griff über den Cafétisch und umschloss ihre Handgelenke.
»Das kannst du auch nicht«, bestätigte er.
Sie hatten einen Pakt geschlossen, um die außergewöhnliche und magische Seifenblase, in der sie gerade lebten, nicht zu zerstören, und vereinbart, nur einmal am Tag ihre Handys einzuschalten, für etwaige Notfälle. Es gab keinerlei Notfälle. Sie bekamen hauptsächlich muntere, flüchtige SMS -Texte von Freunden, die hofften, dass sie glücklich waren, und ein paar von Lukes Partner Jed, mit dem er ein kleines Grafikdesignstudio in einem heruntergekommenen umgebauten Hinterhaus nicht weit von der St. Leonhard’s Church in Shoreditch betrieb, aber es war nichts dabei, was nicht ignoriert oder blitzschnell beantwortet werden konnte; nichts, was es erforderlich machte, außer miteinander noch mit Dritten zu sprechen, es sei denn für die Bestellung von Americanos und Wein und kleinen Bechern Eiscreme aus grünem Tee in einem Spezialgeschäft neben dem Campo di San Toma. Erst als sie am vorletzten Tag, den sie geruhsam und träge in Murano verbracht hatten, über die Lagune zurücktuckerten, hielt Luke Charlotte sein Telefon hin und sagte: »Was hältst du davon?«
Auf dem Display war ein kurzer Text: »Hab Problem. Muss reden. Anruf? R.«
»Ralph?«, fragte Charlotte.
»Hm-hm.«
»Etwas, das nicht bis zu unserer Rückkehr Zeit hat?«
»Blödmann«, sagte Luke. »Warum kann er nicht warten, bis ich zu Hause bin ?«
Charlotte blinzelte zu der dunstigen blauen Silhouette von Venedig, die über das glitzernde Wasser auf sie zukam. »Vielleicht hat er vergessen, dass wir noch unterwegs sind.«
»Typisch.«
»Ich kenne sie nicht sehr gut, deine Brüder und Schwägerinnen«, sagte Charlotte. »Ich hab nicht weiter drüber nachgedacht, es schien mir nicht wichtig zu sein.«
»Es ist nicht wichtig.«
Ihr Blick wandte sich ihm zu. »Ich finde schon. Es geht nicht mehr nur um dich, es geht jetzt um uns. Dein Bruder schickt dir eine solche Nachricht, und du wirkst auf einmal ganz besorgt und abwesend, und da ich jetzt deine Frau bin, hänge ich in der Sache mit drin.«
Luke steckte das Handy in die Hosentasche. Er beugte sich vor, drückte Charlotte gegen die Reling des Vaporetto und legte sein Kinn in die Mulde zwischen ihrem Hals und ihrer Schulter. »Weib …«
»Lenk nicht ab.«
»Ich rufe ihn später an. Wenn ich ihn wegen seiner Rücksichtslosigkeit nicht mehr verdreschen will.«
» Ist er denn sonst auch rücksichtslos?«
Luke hob das Kinn und starrte an Charlotte vorbei zur Friedhofsmauer von San Michele, an der sie gerade vorbeiglitten.
»Nach normalen Maßstäben ja. Aber Ralph ist nicht normal. Er ist brillant und er ist unmöglich. Ich habe ihn unglaublich vermisst, als er weg war, und zugleich ist es so friedlich gewesen. Du bist so verdammt umwerfend.«
Als Charlotte später in dem schwarzen Marmorbad duschte, durch dessen offenes Fenster die warme Luft und das Glockengeläut
Weitere Kostenlose Bücher