Schwiegertöchter (German Edition)
sie Mutter war, hatten sich andere Prioritäten in den Vordergrund gedrängt. Wenn sie ans Zeichnen dachte, kam es ihr vor, als würde es zu der anderen Petra gehören, der Petra, die in der Bar vom Fußballclub gearbeitet hatte, um ihre Miete und ihre kreative Verpflegung und den Zeichenunterricht bezahlen zu können. Sie war nicht dazu erzogen worden, Kunst als eine Berufung zu betrachten, als Lebensmittelpunkt. Tatsächlich war sie noch nie jemandem begegnet, der in der Kunst mehr gesehen hätte als ein selbstgefälliges Privileg, das nur einigen wenigen vergönnt war – bis sie Anthony kennen lernte. Als ihre Kunst dann von Babys und Haushalt und den launenhaften Anforderungen ihres Mannes überlagert wurde, hatte sie das ebenso akzeptiert, wie sie das Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben in ihrer Studentenzeit akzeptiert hatte.
Aber nun lag plötzlich, wegen Ralphs Vorstellungsgespräch, das für sie ebenso viele Bedrohungen wie Hoffnungen zu enthalten schien, ein freier Tag vor ihr. Ein Tag, den sie mit Zeichnen verbringen sollte, das erwarteten alle von ihr. Die Jungs hatte sie abgeliefert – ohne verzweifeltes Gekreische von Kit, wie sie dankbar registrierte –, und sie fuhr Richtung Norden mit dem Gebrauchtwagen, den Anthony und Rachel ihnen geschenkt hatten und in dem Anthony ihr als Geschenk zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag das Fahren beigebracht hatte. Sie war eine gute Fahrerin, besser als Ralph, aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren, so ungewohnt allein im Wagen, ohne das Geplapper vom Rücksitz, ohne Kits Fragen, wie Vögel das mit dem Fliegen machten und ob sie Barney nicht sagen könnte, dass er ihn nicht dauernd anfassen soll. Sie sollte sich vermutlich über diesen freien Tag freuen, aber stattdessen fühlte sie sich verloren und irgendwie ausgeliefert, so als wäre sie unvorbereitet und schutzlos hinaus in den Tag geschickt worden.
Ihr Skizzenbuch war in einer Segeltuchtasche auf dem Beifahrersitz. Anthony hatte ein paar Bleistifte und Rachel ein Picknick beigesteuert, und sie hatten ihr, jeder einen der beiden Jungs auf dem Arm, mit so stürmischer Begeisterung nachgewunken, dass sie ein schlechtes Gewissen bekommen hatte. Die Versuchung war groß, Minsmere weiträumig zu umfahren und lieber irgendeinen Feld-Wald-und-Wiesen-Weg entlangzugondeln, bis sie eine Stelle fand, die groß genug war, um den Wagen zu parken, und dann einfach zu laufen, sich irgendwo in ein Feld zu legen, in den Himmel zu schauen und alle Sorgen wegen Ralph und Kit und Geld und Erwartungen aus ihrem Kopf in die Luft entweichen und sich dort auflösen zu lassen.
Aber um Minsmere kam sie nicht herum. Die Jungs wurden unter der unausgesprochenen, aber klaren Voraussetzung beaufsichtigt, dass Petra den ganzen Tag lang zeichnen würde, mit einer Konzentration, die ihr neue Energie verleihen und sie wieder aufbauen würde. Ihr blieb keine andere Möglichkeit, als das Auto über die lange, von Bäumen gesäumte Einfahrt des Vogelschutzgebietes zu lenken, es auf dem abschüssigen Parkplatz oberhalb vom Besucherzentrum abzustellen, für zwei Pfund fünfzig ein Fernglas auszuleihen und durch Sümpfe und Schilf zum östlichen Beobachtungsposten zu gehen, wo sie vielleicht – ganz vielleicht – Trost und Ablenkung beim Beobachten der Säbelschnäbler finden würde, die auf ihre penible Art in der Lagune herumpickten.
Das Schutzgebiet war gut besucht. Es war Sommer und noch mitten in den Schulferien, und Kinder schlurften über die sandigen Pfade zum Meer. Petra dachte, wenn sie an deren Stelle wäre, gewöhnt an die rastlose Action von Computerspielen, würde sie einen Tag hier draußen im Vogelschutzgebiet, wo Schreien und Rennen verboten war und alle Erwachsenen seltsam entrückt waren und sich ganz langsam bewegten, sehr verwirrend finden. Wenn nicht gar entmutigend. Tatsächlich bin ich nicht mal sicher, ob ich dem heute gewachsen bin, dachte sie, als sie vor dem geschickt getarnten Eingang der Beobachtungshütte stehen blieb. Ich bin nicht sicher, ob ich da reingehen kann und still mit meinem Fernglas auf der Bank sitzen und beobachten und warten und warten und beobachten kann, bis meine Hände beinahe automatisch einen Bleistift greifen und ich feststelle, dass ich zeichne, als hätte ich niemals damit aufgehört. Vielleicht kann ich es später. Vielleicht gehe ich ein bisschen spazieren und versuche, etwas von der Ruhelosigkeit loszuwerden. Vielleicht gehe ich runter zum Meer und setze mich in die Dünen und
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