Schwiegertöchter (German Edition)
Notiz von den Menschen, die sich kurz neben sie setzten. Eine halbe Stunde saß sie nur da und beobachtete, wobei ihre Atemzüge immer langsamer und tiefer wurden, bevor sie plötzlich einen Stift in der Hand hatte und zeichnete.
Sie zeichnete gerade einen Rotschenkel, bestaunte seine leuchtend orangefarbenen Beine, als eine Stimme hinter ihr sagte: »Tut mir leid, Sie zu stören, aber es ist gleich fünf Uhr.«
Petra blickte erschrocken auf. Ein älterer Mann mit dicker Brille, Notizbuch und emaillierter Anstecknadel in Form eines Säbelschnäblers an seiner Weste stand hinter ihr. Er sagte: »Ich habe Sie beobachtet. Meine Frau auch. Wir kommen jede Woche hierher, wenn das Wetter gut ist, wir lieben es. Und wir sind sehr beeindruckt.« Er zeigte auf Petras Skizzenbuch.
»Oh.«
»Aber vielleicht haben Sie vergessen, dass um fünf Uhr geschlossen wird. Ich hab zu Beryl gesagt, ich will doch kein Pedant sein, und sie hat gemeint, besser ich sage es Ihnen als einer der Mitarbeiter, und dann könnte ich Ihnen auch gleich noch sagen, wie gelungen wir Ihre Zeichnungen finden.«
Petra schaute auf die Seite. Ihr männlicher Rotschenkel befand sich im Flug und zeigte seine weißen Flügelspitzen.
»Danke sehr.«
»Ist schon gut. Es geht nichts über Vögel, oder? Wir haben so viel Trost bei ihnen gefunden, seit unsere Tochter gestorben ist.«
Petra starrte ihn an. »Oh, das tut mir leid.«
»Hat wohl was mit den Flügeln zu tun, nehme ich an. Vögel und Engel. Beryl sagt, es bringe nichts, zu viel in so was hineinzudeuten, aber ich finde, es hilft.«
Petra fing an, ihre Sachen einzusammeln und sie in die Tasche zu stopfen. Sie konnte den Mann nicht ansehen. »Ja«, sagte sie. »Ja, das kann ich mir gut vorstellen.« Sie hängte sich die Tasche über die Schulter. »Vielen Dank, dass Sie mir Bescheid gesagt haben. Wegen der Zeit, meine ich. Danke.«
Und dann schob sie sich an ihm vorbei durch die Tür in den Schilfkorridor, der zum Rundweg führte, und floh.
Auf dem Parkplatz konnte sie die Autoschlüssel nicht finden. Sie kehrte ihre Umhängetasche um, ihre Westentaschen und den Picknickbeutel, aber es tauchten keine Schlüssel auf. Sie hüpfte auf und ab, um zu hören, ob etwas in einer vergessenen Tasche klimperte, aber da war nichts, nicht mal in den zugeknöpften Taschen ihrer Cargohose. Sie sah auf die Uhr. Es war Viertel nach fünf. Rachel und Anthony würden sie gegen halb sechs zurückerwarten, und sie hatte keine Handyverbindung, um ihnen mitzuteilen, dass sie später kommen würde. Sie hob die Faust und schlug, sinnlos und ohnmächtig, aufs Autodach.
Sie musste die Schlüssel in den Dünen verloren haben. Wahrscheinlich waren sie ihr aus der Tasche gerutscht, während sie im Sand schlief, und die Geräusche der Möwen und des Meeres hatten das Klimpern übertönt. Sie musste noch mal zurück und die Stelle wiederfinden, wo sie – unbekümmert und sorglos – gelegen und ihr Blick sich im weiten leeren Himmel verloren hatte.
Sie legte die Umhängetasche neben dem Auto ab und schob sie dann nach kurzer Überlegung zusammen mit dem Picknickbeutel darunter. Der Parkplatz war jetzt beinahe leer, nur die Wagen einiger Mitarbeiter standen nahe beim Eingang des Besucherzentrums. Petra sprintete los, wollte drinnen fragen, ob jemand ihren Schlüssel abgegeben hatte, aber es war bereits geschlossen, und drinnen war kein Lebenszeichen mehr zu erkennen, auch nicht im Café, wo die Tische und Stühle in geschäftsmäßiger Symmetrie zurechtgerückt waren.
Petra rannte weiter, jäh aus der gelassenen Stimmung des Nachmittags gerissen und hektisch auf der Suche nach einer Lösung für das verschlossene Auto, das nutzlose Handy und zwei kleine Jungen, die in einer Viertelstunde abgeholt werden mussten. Als sie bei den Dünen ankam, fand sie die Stelle, an der sie geschlafen hatte, fiel auf die Knie und wühlte mit den Fingern im Sand, in der Hoffnung, ein Stück Metall aufblitzen zu sehen.
Dann hörte sie jemanden rufen. Es war kein lautes Schreien, sondern klang, als würde jemand so diskret wie möglich versuchen, sie auf sich aufmerksam zu machen. Sie schaute auf. Weiter unten am Strand parkte ein Quad mit einem Anhänger voller Netze, und der junge Mann, den Petra vorhin beobachtet hatte, winkte und gestikulierte.
Petra rappelte sich auf. Sie lief ihm entgegen, stolperte im Sand, und er kam auch auf sie zu, und als sie nur noch zehn Meter voneinander entfernt waren, konnte sie hören, was er sagte: »Ich habe
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