Schwiegertöchter (German Edition)
Erholungsoase, und die Besucher sollten hier Vögel beobachten und kein Nickerchen halten. Er bückte sich, um sie mit sanfter Hand zu wecken, und stellte fest, dass er es nicht konnte. Sie würde schließlich nicht so schlafen, wenn sie es nicht dringend bräuchte. Sie sah aus, als hätte sie seit langem nicht mehr so tief und erholsam geschlafen. Außerdem würde ohnehin bald jemand durch die Dünen stapfen und sie damit aufwecken, also musste er nicht übertrieben beflissen und diensteifrig sein. Steve richtete sich wieder auf. »Ich hab Dornröschen unten am Strand gefunden«, würde er vielleicht den anderen Jungs, mit denen er arbeitete, erzählen. Obwohl sie nicht unbedingt wie eine schöne Prinzessin aussah. Hübsches Gesicht, es gefiel ihm, aber nicht schön.
»Schlaf gut«, formte er lautlos mit den Lippen und ging weiter durch die Dünen zum Weg.
Später kaufte sich Petra im Café des Besucherzentrums einen Tee und nahm ihn mit hinaus zu einem der Picknicktische auf dem Rasen. Sie wickelte die Pakete aus, die Rachel ihr mitgegeben hatte, und fand darin Sandwiches mit Eiersalat und Gurkenstücken und Haferkekse und getrocknete Aprikosen. Sie breitete alles auf dem Tisch aus und betrachtete es einen Moment. Sehr lecker. Und sehr aufmerksam. Die Belohnung für einen langen Vormittag mit vielen Zeichenstudien. Außer, dass sie keinen einzigen Strich gezeichnet hatte, sie hatte nicht mal einen von Anthonys Bleistiften aus der Tasche geholt. Sie hatte nichts getan, außer im warmen Sand zu schlafen, bis sie von zwei Kindern aufgeweckt wurde, die vorbeistapften und ihr versehentlich Sand ins Gesicht spritzten. Es war herrlich gewesen. Sie hatte den Eindruck, seit Jahren nicht mehr so geschlafen zu haben, nicht mehr seit sie bei Ralph in dem kargen Cottage in Shingle Street gewohnt und durch das offene Fenster die Geräusche von See und Wind und Möwen zu hören gewesen waren, so wie hier.
Sie gähnte. Sie musste zwei Stunden oder länger geschlafen haben – am helllichten Tag. Sie fühlte sich unbeschwert und heiter, beinahe glücklich. Und sie hatte das Gefühl – es würde noch einige Stunden hell sein –, jetzt zeichnen zu können. Nachdem sie gegessen hatte, würde sie noch genug schaffen, um Rachel und Anthony zu beweisen, dass sie die stillschweigenden Bedingungen des Handels erfüllt und sich den freien Tag verdient hatte. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und sah aufs Display. Kein Empfang. Petra fühlte sich insgeheim fast ein wenig erleichtert. So konnte sie nicht nach den Kindern fragen und auch nicht nach Ralph. Sie konnte, mit anderen Worten, nicht jene Verantwortung für andere Menschen übernehmen, die ihr Leben dominierte und es manchmal bis über die Grenze des Erträglichen belastete. Wenn Ralph etwa schlechte Laune hatte, wusste sie, dass es weder ihre Schuld noch ihr Problem war, und dennoch war sie zwangsläufig auch davon betroffen und wurde mit hineingezogen. Dann konnte sie spüren, wie die Energie aus ihr herausfloss und in den Boden unter ihren Füßen sickerte. Aber heute saß sie an einem von der Sonne aufgewärmten hölzernen Picknicktisch, ließ sich Rachels köstliche Sandwiches schmecken und hatte Urlaub von alldem, eine kurze Atempause, zu der das begrenzte Verbindungsnetz ihrer Telefongesellschaft einen freundlichen Beitrag geleistet hatte.
Sie aß die Brote auf, trank den Tee aus und wickelte die übrigen Sachen wieder in die Folie. Barney würde sich später über die getrockneten Aprikosen freuen und wäre begeistert von den Keksen. Kit würde jammern, wie bei fast jeder Mahlzeit, weil er jegliches Essen ablehnte, das frisch war, eine leuchtende Farbe oder noch seine natürliche Form hatte. Aber darüber musste sie jetzt noch nicht nachdenken. Sie brauchte an nichts zu denken außer an ein paar geruhsame, stille Stunden in der Beobachtungshütte mit dem Fernglas und dem Skizzenbuch vor ihr auf dem Brett unter der Fensteröffnung, wo Anthony ihr zum ersten Mal wortlos und mit schnellen Strichen gezeigt hatte, wie sich eine Vogelzeichnung aus einem Dreieck entwickelt.
Sie richtete sich am äußersten Ende der Bank ein, um gute Sicht sowohl nach links als auch nach vorn zu haben. Außer ihr war noch ein Mann mit einer Kamera da und ein paar Leute mit Notizbüchern, aber alle anderen betraten und verließen die Hütte mit derselben respektvollen Diskretion, wie man Kirchen und Kathedralen besucht. Petra vergaß bald alles Kommen und Gehen um sich herum, nahm nicht mal
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