Schwimmen in der Nacht
meine Lippen diese Worte formten. Mr Giles würde es nicht merken.
«Du hast Glück», sagte sie.
«Robertson, Schwartz?» Mr Giles rief alle Namen bis zum Ende der Liste auf. Sogar sein Kopf wackelte leicht. Sein ganzer Körper vibrierte wie eine Stimmgabel, als ob sich unter seiner Haut der zu ihm gehörende Geist in einer anderen Geschwindigkeit bewegen würde. Seine linke Hand zitterte stärker als die rechte.
Es klingelte zur Pause und ich folgte Margaret die ausgetretene Steintreppe nach unten zur Mädchentoilette neben der Turnhalle. Die Toilette sah mit den münzgroÃen, schwarz-weiÃen Bodenfliesen, die Risse hatten und altersramponiert waren, wie ein altes Tanzstudio aus.
«Hier runter kommt nie einer», sagte sie und trat an ein Waschbecken, an eins von vielen an einer Wand voller Spiegel. Sie lieà ihre schwarze Tasche ins Waschbecken plumpsen. «Siehst ja, warum. Das Ding ist ein Drecksloch. Schau mal nach, ob jemand in den Kabinen ist. Man weià ja nie.»
Ich beugte mich runter und konnte nirgendwo FüÃe sehen. «Keiner da», sagte ich.
«Gestern hatte ich hier morgens auf der Toilette ganz schlimme Bauchkrämpfe.» Sie wühlte in ihrer Tascheund fischte einen schwarzen Kajalstift heraus. «Ich konnte nicht laufen.» Das Becken gegen das Porzellanwaschbecken gedrückt und so weit nach vorn gebeugt, dass ihre Nasenspitze fast den Spiegel berührte, zog sie einen schwarzen Strich am oberen und unteren Lidrand. «Hast du schon deine Tage?», fragte sie. Sie riss die Augen auf und inspizierte jede Wimper einzeln.
Ich nickte.
«Ich habe sie mit neun bekommen», sagte sie.
Ich sagte ihr nicht, dass ich sie erst im vergangenen Sommer zum ersten Mal gehabt hatte. Stattdessen stellte ich mich an das Waschbecken neben ihrem und drehte den HeiÃwasserhahn auf, aber es kam nichts heraus.
«Die gehen alle nicht», sagte sie.
Sie trug ganz gleichmäÃig Lippenstift auf, weià wie Puderzucker sah der aus. Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und rückte meinen Zopfmuster-Pullover so zurecht, dass er direkt über dem Hosenbund meines grünen Faltenrocks saÃ. Dafür, dass ich so farbig gekleidet war â grüne Socken und grüner Rock â, sah ich im Spiegel verdächtig blass aus. Margaret hatte transparente Strümpfe an, in denen ihre Wadenmuskeln zart schimmerten. Sie hatte lange schlanke Beine. Ihre schwarzen Schuhe, wenn auch abgenutzt und matt, schmiegten sich an ihre FüÃe. Durch die Absätze wurden ihre Muskeln noch betont. Sie hatte sich auf ein essenzielles Etwas reduziert, das ich wollte.
Ich drehte mich weg vom Spiegel und zählte acht Waschbecken. Jedes einzelne hatte einen Riss, entweder am Ausguss oder am Wasserhahn.
«Dieser Ort ist nutzlos», sagte sie und sprach imSpiegel mit mir. «Rauchst du? Ich habe gemerkt, dass jüdische Mädchen nicht rauchen. Wahrscheinlich zu beschäftigt damit zu lernen.» Sie zeigte mit der Hand auf ihre Tasche. «Du kannst dir eine nehmen.»
«Meine Eltern rauchen.»
Es klingelte wieder, und ich wusste, dass ich zum Unterricht gehen musste.
«Ich geh dann mal», sagte ich. «Geht es dir wirklich gut? Sicher?»
«Ja. Wir sehen uns beim Mittagessen.»
Sie lächelte, und ich ging, während sie sich die unteren Wimpern tuschte.
Die Gänge hatten sich schon geleert. Ich schlich durch die hintere Tür ins Klassenzimmer und rutschte auf meinen Stuhl in der mittleren Bankreihe. Mr Bing, der Biologielehrer, musterte mich kurz, sagte aber nichts. Er stand schwerfällig vor der Tafel, ein groÃer Mann mit einer Baritonstimme und einem schwarzen, dreieckigen Bart, der bis zu einem Punkt unterhalb seines Kinns gestutzt war. Seine braunen Haare sahen fettig aus.
«Hab ich was verpasst?» Ich saà neben meiner Laborpartnerin Sophie Cohen.
«Bisher noch nichts.»
Sophie saà makellos gerade und hielt ihren langen, blassen Hals gestreckt. Ihre Haare waren so dünn und leicht, dass einzelne Strähnen ihr so flauschig über die Schulter fielen wie die Härchen einer Seidenpflanze. Sie trug gelbe Kniestrümpfe, die farblich auf ihren karierten Rock und ihren Pulli abgestimmt waren.
Mr Bingham sprach von stabilen und instabilen Molekülzuständen. Er sagte, Wassermoleküle erhielten mitviel Kraft den flüssigen Zustand aufrecht. Aber Margarets Schwangerschaft ging mir nicht
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